Hirschkuss
Stimme sofort, tat aber so, als hörte sie nichts. Sie lief weiter. Doch sie hätte sprinten müssen, um dem Kerl zu entkommen. Diese Peinlichkeit wollte sie sich dann aber doch ersparen.
»Frau Kommissar, Frau Kommissaaar, warten Sie!«, rief der Baden-Württemberger noch einmal. Anne blieb notgedrungen stehen und drehte sich genervten Blicks um.
»Was!«, herrschte sie den Fensterunternehmer an.
Achleitner war außer Atem. Nachdem er etwas Luft geschnappt hatte, sagte er in seinem schwäbischen Singsang: »Ich weiß ja gar net, wie Sie heißet!«
»Loop«, antwortete Anne knapp.
»Lob? Des ischt aber ein schöner Name für eine schöne Frau! Ja darf man Sie denn heut schon loben? Haben’S die Frau gefunden?«
»Meinen Namen schreibt man mit P und zwei O.«
»Des ischt ja exotisch.«
›So ein Schleimer‹, dachte Anne sich. Das Wort »exotisch« sprach er, als schreibe man es mit zwei T.
»Und? Gibt’s einen Fahndungserfolg zu vermelden von der schönschten Polizischtin auf Erden?«
»Reißen Sie sich zusammen, Herr Achleitner«, wies Anne den Hotelgast zurecht. »Ich bin im Dienst, und Sie bewegen sich auf einem schmalen Grat.«
Entrüstet schüttelte der Dicke, dessen dunkelbraune Pilotenjacke nach Leder roch, den Kopf. »Es ist mittlerweile schon eine Kataschtrophe in unserem Land: Nicht einmal Komplimente darf man mehr mache’. Und jetzt habe ich ja noch nicht einmal gesagt, dass Ihre hübschen Brüschte gut ein Dirndl ausfülle’ könnten!«
»Herr Achleitner, nochmal: Sie bewegen sich auf dünnem Eis. Zügeln Sie sich. Und kommen Sie zur Sache: Was haben Sie zu sagen?«
Achleitner schüttelte den Kopf. »Ihr deutschen Frauen habt’s doch alle Komplexe! Ich war kürzlich in Thailand …«
»Ach ja?«, fuhr Anne dazwischen. »Haben Sie da ein paar Thaimädchen ordentlich durchgefickt?«
Mit diesem Satz hatte Achleitner nicht gerechnet. Er sah Anne entgeistert an. »Ja, nein, ich meine, also … eine Freundin – ich hatte dort schon eine … so eine Art … Freundin.«
»So eine Art Freundin«, meinte Anne hämisch. »Und wo ist die jetzt, Ihre …« – Anne setzte eine kunstvolle Pause – »… Art Freundin?«
»In Thailand natürlich. Die wartet auf mich. Die freut sich immer, wenn ich komm. Wissen Sie, die Frauen werden dort wirklich nicht gut behandelt …«
Ehe er zu weiteren Ausführungen kam, unterbrach Anne ihn: »Herr Achleitner, ich muss los« und ließ ihn einfach stehen.
Während die Polizistin so schnell rannte, dass sie schon bald völlig außer Atem war – sie wollte den Dicken unbedingt loswerden –, dachte sie darüber nach, ob an Achleitners Verhalten irgendetwas Verdächtiges war. Sprach es für oder gegen ihn, dass er die Ermittler so offensiv auf die Vermisste angesprochen hatte? Fehlte ihm einfach nur jedes Taktgefühl, oder war sein auffälliges Verhalten der Versuch, sich ganz bewusst als unverdächtig darzustellen?
Obwohl Anne beim Joggen ständig nach Hanna Nikopolidou Ausschau hielt, entspannte sie das Laufen mit jedem Schritt mehr. Die Luft war vom gestrigen Regen frisch, der Wald roch erdig. Sie beschloss, auch in den nächsten Tagen hier laufen zu gehen. Es tat ihr gut, und vielleicht würde der Zufall sie auf die Spur der rätselhaft verschwundenen Bankerin setzen. Nach einer Dreiviertelstunde langte sie wieder am Hotel an. Schon von Weitem hatte sie nach Achleitner Ausschau gehalten, um ihm ja nicht noch einmal zu begegnen. Aber die Luft schien rein zu sein. Anne sperrte das Fahrradschloss auf und stieg hastig auf ihr Mountainbike, um zur Polizeiinspektion zu radeln.
Nach einer Dusche im Untergeschoss trat sie erfrischt und in faltenfrei gebügelter Uniform in das Büro, das sie sich mit Sepp Kastner teilte.
»Grüß dich.« Kastner blätterte gerade in einer Akte. Ohne aufzusehen, meinte er: »Wir fahren gleich nach München. Der Schönwetter hat angerufen. Wir sollen die Wohnung von der Nikopolidou durchsuchen und ihr Umfeld abklopfen, privat und beruflich. Vor allem diese Katja Engels. Und der Schönwetter meint auch, dass es einen Abschiedsbrief geben könnte. Wenn wir wüssten, dass sie sich umgebracht hat, dann wären wir einen Schritt weiter, meint der Schönwetter.«
»Also, na ja«, sagte Anne. »Ob man sich ausgerechnet ein Wellnesswochenende bucht, um sich dann umzubringen … Die Berge als Suizidorte sind eher was für Fernsehserien. In der Wirklichkeit sterben die Leute, die im Gebirge ums Leben kommen, doch eher, weil sie
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