HISTORICAL Band 0264
wortreich, ihr nicht länger Gesellschaft leisten zu können, ohne jedoch einen Grund zu nennen. Beim Abschied sah Blair, dass weitere Herren eintrafen, und bemerkte mit wachsender Verzweiflung in einer Ecke des geräumigen Vestibüls einen Stoß Jagdflinten. Zu Fuß konnte sie Lindsay Hall schnell erreichen, wenn sie den Weg durch den Wald nahm. Hoffentlich kam sie noch rechtzeitig an, bevor Lord Lindsay sich zu der Holzhütte aufmachte.
Kaum eine Viertelstunde später pochte sie, vollkommen außer Atem, an das Portal von Lindsay Hall.
Der Butler zog ärgerlich die Brauen hoch, als er die späte Besucherin sah. Wussten Schottinnen denn nicht, dass man sich in der zivilisierten Welt an bestimmte Empfangszeiten zu halten hatte? Er brauchte seine ganze Überzeugungskraft, Miss Duncan glauben zu machen, dass Seine Lordschaft nicht zu Hause war. Statt eine Nachricht zu hinterlassen, rannte sie ohne eine Wort der Erklärung wie gehetzt davon.
Mit langen Schritten lief sie den Hang hinauf und rang keuchend nach Atem. Sie wusste, es war wahnwitzig, was sie tat, doch darauf kam es jetzt nicht an. Wenn Cameron etwas zustieß, nur weil sie ihn nicht gewarnt hatte, würde sie sich das nie im Leben verzeihen. Sie musste die Hütte erreichen, ehe die Engländer kamen, damit er fliehen konnte. Zumindest aber wollte sie sich vergewissern, ob er dort war. Ohne auf die Stiche in der Seite zu achten, stolperte sie vorwärts und wunderte sich, wie viel sie ertragen konnte, um den geliebten Mann zu retten. Sie konnte sich nicht länger darüber hinwegtäuschen. Trotz der Frau, die er in London hatte, wusste sie, dass sie ihn liebte wie keinen anderen.
Schließlich hatte sie die verfallene Hütte erreicht. Nichts ließ darauf schließen, dass jemand sich dort aufhielt. Aber das bedeutete nicht, dass Cameron nicht trotzdem im Inneren war und heimlich Säcke für seine Weihnachtsgaben füllte.
Vorsichtig schlich Blair um das Häuschen. Nichts deutete darauf hin, dass die Engländer schon auf der Lauer lagen. Sie griff nach dem Türriegel, schob ihn langsam zurück und drückte die Tür auf. Die rostigen Angeln ächzten laut in der Stille der Nacht. Auf Zehenspitzen ging sie zur Mitte des kleinen Raumes und wollte eben Camerons Namen flüstern, als ein Schwefelholz aufflammte und eine Stimmte laut rief: „Wir haben ihn, Freunde, legt an!“
8. KAPITEL
„Großer Gott“, rief Mr. Enright, als der grelle Lichtschein der Laternen auf Miss Duncans Gesicht fiel. „Senkt die Flinten, Leute! Unser Dieb ist niemand anders als Miss Duncan. Lustig, nicht wahr, Mylord, dass der Verbrecher sich als die junge Dame erweist, die Sie uns so übereifrig als Muster schottischer Treue und Aufrichtigkeit gepriesen haben? Ich glaube, jetzt wissen wir, wie weit wir uns auf Ihre Menschenkenntnis verlassen können.“
„Machen Sie sich nicht lächerlich, Enright! Ich bin ganz sicher, dass Miss Duncan uns ihre Anwesenheit erklären kann“, sagte der Earl of Haverbrook und sah zögernd zu ihr hin.
Sie stand da, ohne mit der Wimper zu zucken, nur in den blauen Augen brannte der Zorn.
„Ich glaube, wir wissen, was sie hergeführt hat“, warf ein anderer Engländer ein. „Sie holt noch mehr von ihrer Beute. Kein Wunder, dass sie Jahr für Jahr Nachbarn und Pächter mit prallgefüllten Weihnachtskörben beschenken konnte! Alles, was sie uns gestohlen hat, kostete sie keinen Penny.“
„Und wer hätte jemals eine Frau solcher Vermessenheit im Namen der Nächstenliebe verdächtigen wollen?“, fragte Lord Fairfax, dessen Äpfel die Weihnachtskörbe bereichert hatten.
„Ich glaube kaum, dass Miss Duncan …“, begann Lord Haverbrook.
„Gentlemen“, unterbrach sie ihn ruhig, „gestatten Sie mir, auch etwas zu sagen! Was, um Himmels willen, habe ich Schreckliches getan, dass Sie sich dermaßen erregen? Es ist mir bisher noch nie passiert, dass ich mit einem Spaziergang am Heiligen Abend solche Bestürzung ausgelöst hätte.“ Sie bemühte sich, leise zu sprechen, um nicht zu zeigen, dass sie ganz außer Atem war. In eben die Falle gegangen, vor der sie Cameron bewahren wollte, blieb ihr keine andere Wahl, als vorzugeben, dass sie keine Ahnung von den verräterischen Dingen in der Hütte hatte. Sie schickte ein Dankgebet zum Himmel, dass sie Lord Haverbrooks Uhr zu Haus gelassen hatte. Hätte man das kostbare Stück bei ihr gefunden, wäre sie erst recht in Verdacht geraten. „Bin ich vielleicht in eine Geheimversammlung englischer Ehemänner
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