HISTORICAL Band 0272
fiel. Selbst jetzt wagte sie nicht, sich umzudrehen. Sie hatte Angst, dass sie ihm nachrennen würde und dass sie dann … dass sie sich ihm dann für noch mehr Küsse und … wer weiß was … hingeben würde.
Gott helfe mir, dachte sie verstört. Ich liebe ihn so sehr. Er war der anstrengendste und furchtbarste Mann, den sie je kennengelernt hatte. Und er war auch der am wenigsten lenkbare.
Ihr Ehemann entglitt ihr. Und ihre Ehe lief völlig aus dem Ruder. Was in aller Welt sollte sie nur tun?
Sie hatte sehr wohl bemerkt, wie Miranda James angehimmelt hatte. Sie hatte auch bemerkt, dass Miranda ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit berührt hatte. Am liebsten wäre Susanna dazwischen gegangen. Aber das konnte sie schlecht tun, ohne sich zu blamieren. Was den lüsternen Mr. Fowler anging, so hatte James natürlich recht. Der junge Mann ließ keinen Zweifel daran aufkommen, wohinter er her war. Wenn die beiden doch einfach verschwinden würden!
Susanna war selbst überrascht, dass die Lektionen ihrer Mutter zum Thema „Die perfekte Gastgeberin“ so fest saßen. Gäste, so hatte ihre Mutter wiederholt gelehrt, empfangen wir nicht uneigennützig. Sie vermitteln nach dem Besuch unser Bild an die Welt. Gäste sollten daher immer das Gefühl haben, gern gesehen zu sein. Gästen sollte es an nichts mangeln. Gästen gegenüber sollte man sich immer so vorteilhaft wie möglich zeigen.
Dennoch, dachte Susanna, sollten mir James’ Wünsche mehr am Herzen liegen als mein Wunsch, eine gute Gastgeberin zu sein. Und James wollte ihre Besucher loswerden. Sie wollte das eigentlich auch, und mit gutem Grund: Denn was, wenn es Miranda gelingen sollte, James zu verführen? Warum sollte ein Mann wie James sich nicht nehmen, was ihm auf dem Silbertablett angeboten wurde? Zumal, wenn er hungrig war? Und James war hungrig. Das hatten seine Küsse ihr gerade zur Genüge bewiesen.
Für dieses Problem gab es natürlich auch eine andere Lösung, als den Besuch vor die Tür zu setzen. Sie selbst konnte James’ Verlangen stillen – und ihr eigenes. Aber wie konnte sie das bewerkstelligen und sich gleichzeitig ihren freien Willen und ihre Unabhängigkeit bewahren? Susanna schlug die Hände vors Gesicht. Sie wusste genau, sie würde von nächtlichen, Kräfte zehrenden Liebesspielen wie jede andere Frau aufgerieben werden, würde ihm jedes Jahr ein Kind gebären. Wie konnte sie dann noch die Frau bleiben, die sie war? Ihre Lebenszeit war so begrenzt.
Musste sie wirklich Angst davor haben, dass James sein Treueversprechen brach und sich mit Miranda einließ? Verspürte sie nur deshalb das Bedürfnis, sich ihm anzubieten?
Nein, gestand sie sich ein. Sie wusste, dass sie ihr eigenes Versprechen gerne einlösen würde. Aber sie hatte den Vollzug der Ehe so lange hinausgezögert, dass er es vielleicht als plötzliche Verzweiflung ihrerseits ansehen würde, wenn sie sich ihm ausgerechnet jetzt hingab.
Sie musste nachdenken, bevor sie irgendetwas tat. Sie wollte nicht, dass er dachte, sie kapituliere.
Am nächsten Morgen wachte James mit ungewohnt schlechter Laune auf. Nicht nur, dass Susanna immer noch allein im Nebenzimmer schlief – ihm stand ein ganzer Tag in Gesellschaft des Londoner Pärchens bevor. Es war undenkbar, es Susanna zu überlassen, die beiden zu unterhalten.
Er stand auf und stellte fest, dass jemand – Kait, nahm er an – seinen zerknitterten Anzug und sein Hemd frisch gewaschen und gebügelt hatte. Er spritzte sich Wasser aus dem Waschkrug ins Gesicht, zog sich an und hoffte, er würde noch Zeit haben, einen Blick in Mr. Colins Buchführung zu werfen, bevor die Gäste erwachten.
Susannas Tür öffnete sich fast zeitgleich mit seiner. „Guten Morgen“, begrüßte sie ihn leise. Sie trug ein elegantes gelbes Kleid, das ihr sehr gut stand und ihre schlanke Taille vorteilhaft betonte. Offenbar hatte sie sich besondere Mühe mit ihrer Frisur gegeben. Kleine Elfenbeinkämme hielten es im Nacken in einem Chignon zusammen. Es juckte ihm in den Fingern, die Kämme herauszuziehen und zuzusehen, wie ihre langen roten Locken über ihre Schultern fielen.
Doch er lächelte nur, während sie gemeinsam zur Treppe eilten. „Was werden wir heute unternehmen?“, erkundigte er sich im Flüsterton.
„Broderick würde gerne jagen, wenn das möglich ist.“
James hob eine Augenbraue. Es fiel ihm schwer, weiter zu lächeln. „ Broderick – so nennst du ihn also mittlerweile? Arrangieren lässt sich das schon. Aber er wird zu
Weitere Kostenlose Bücher