HISTORICAL Band 0272
Sie fuhr herum und klammerte die Hände um die Rückenlehne des Stuhles. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Vielfalt unterschiedlicher Gefühle. Schock, Verwirrung, Angst und nicht zuletzt, wie er fasziniert feststellte, gebieterischer Zorn, der alle anderen Empfindungen überlagerte. Sie hatte Courage, das musste man ihr lassen.
„Wer zum Teufel sind Sie?“, fragte sie in akzentfreiem Englisch, während sie sich majestätisch erhob. Die rechte Hand hielt sie hinter ihrem Rücken, und Jack überlegte, was sie verbergen wollte. Ach ja, den Brieföffner, der vorhin noch auf dem Schreibtisch gelegen hatte. Eine geistesgegenwärtige Dame mit schnellen Reflexen.
„Sie sprechen fabelhaft Englisch“, lobte er, was nicht weiter verwunderlich war, da sie zur Hälfte Engländerin war. Allerdings erschienen ihm diese einleitenden Worte taktvoller als der Befehl: Legen Sie den Brieföffner weg, bevor ich Sie dazu zwinge! „Aber wieso wissen Sie, dass ich diese Sprache auch beherrsche?“
Sie bedachte ihn mit einem hochmütigen Blick. Jack registrierte dunkle Augen, fein geschwungene Brauen und verführerisch volle rote Lippen, die mehr Leidenschaft verrieten, als sie eingestehen würde. Eine Locke hatte sich aus ihrem hochgesteckten Haar gelöst und lag auf ihrer elfenbeinhellen Schulter. Er blickte ihr unverwandt in die Augen und verbannte den flüchtigen Gedanken, wie ihre Haut sich wohl anfühlen mochte.
„Sie haben mich mit Königliche Hoheit anzusprechen“, entgegnete sie kühl. „Ich denke gelegentlich in Englisch“, fügte sie im Nachsatz hinzu.
„Sehr wohl, Königliche Hoheit.“ Jack machte eine formvollendete Verneigung, die keineswegs zu seinem Äußeren passte. Seine Kleidung diente dem Zweck, sich von hohen Burgmauern abzuseilen, nicht aber für einen höfischen Kratzfuß. „Mein Name ist Jack Ryder.“ Er hatte überlegt, ob er ihr seinen wahren Namen nennen sollte – und sich dagegen entschieden. Sein Pseudonym war unverfänglicher, falls er durch widrige Umstände in Gefangenschaft geraten sollte.
„Sie sind Engländer, Mr. Ryder?“
„Ja, Ma’am.“
„Und Sie sind nicht gekommen, um mich zu töten?“
Damit habe ich ihm wohl den Wind aus den Segeln genommen, schoss es Eva durch den Sinn, während der Fremde sie aus leicht zusammengekniffenen Augen musterte, und zwar in einer Art, die sie nur als dreist bezeichnen konnte. Das Gebaren dieses Jack Ryder war mit nichts zu entschuldigen, und dennoch machte ihr sein abschätzender Blick ihre Weiblichkeit bewusst. Es war lange Zeit vergangen, seit ein Mann sie auf diese Weise angesehen hatte, und noch länger, seit ihr Pulsschlag sich unter einem solchen Blick erhöht hatte.
Es gelang ihr mit einiger Mühe, ihren Atem zu beruhigen und den Griff ihrer Finger um den Brieföffner zu lockern. Sollte er tatsächlich Engländer sein, stellte er vermutlich keine Gefahr für sie dar. Allerdings durfte sie nach den gestrigen Vorfällen kein Risiko eingehen. Im Übrigen bedeutete sein verwegenes Eindringen durch das Fenster gewiss nichts Gutes.
„Nein, Ma’am. Ich komme keineswegs in der Absicht, Sie zu töten.“ Sie entspannte sich ein wenig. Wieso aber wollte er nicht wissen, was sie zu dieser Frage bewog? Eva musterte ihn forschend, während sie über die beunruhigenden Verflechtungen der Ereignisse in letzter Zeit nachdachte. Er wirkte um einige Jahre älter als ihre sechsundzwanzig, war aber weit davon entfernt mittleren Alters zu sein. Dunkle Haare, graue Augen, sehnige muskulöse Gestalt, offensichtlich athletisch trainiert – angesichts der Tatsache, auf welchem Wege er in ihr Gemach eingedrungen war. Hagere, markant geschnittene Gesichtszüge eines Kriegers. Sie konnte ihn sich mühelos vorstellen, wie er ein Schwert über dem Kopf schwang. Und er bewegte sich zugleich mit der Geschmeidigkeit eines Degenfechters. Nach seinem anfänglichen Staunen über ihre ersten Worte zeigte er eine verschlossene Miene.
„Überzeugen Sie mich“, sagte sie in der Hoffnung, er würde das Zittern nicht bemerken, das sie erfasst hatte. „Andernfalls werde ich schreien, und im nächsten Moment stürmen bewaffnete Wachen in dieses Zimmer und nehmen Sie fest.“
Er zog eine Pistole. „Und im gleichen Moment wird ein Mann tödlich getroffen zu Boden sinken. Das sollten Sie vermeiden, Ma’am.“ Die Waffe verschwand wieder in seinem Jackett. „Ich komme im Auftrag der britischen Regierung. Der Vormund und Patenonkel Ihres Sohnes ist der Meinung, es
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