HISTORICAL Band 0272
Ich habe Pflichten für mein Land. Aber Freddie braucht mich wiederum, und dieser respektlose Jack Ryder hält mich zu all dem noch für eine hysterische Frau.
„Was ist mit Philippe? Er ist nicht transportfähig.“
„Philippe bleibt hier. Er ist der Regent und war sich Gefahren bewusst, als er das Amt antrat.“ Dieser kaltblütige Mensch redete, als handle es sich um ein Picknick, an dem Philippe wegen einer Unpässlichkeit nicht teilnehmen kann. Dabei könnte ihre Flucht bedeuten, ihren Schwager dem sicheren Tod zu überlassen. Der gute Philippe, Freddies geliebter Onkel Petz. „Könnten Sie ihm nützen, wenn Sie bleiben?“ Sie schüttelte benommen den Kopf. „Dann gehen wir.“
„Jetzt?“ Schwindel drohte sie zu übermannen. Sie hatte so lange Zeit selbst Entscheidungen getroffen. Und plötzlich tauchte dieser Fremde auf und nahm ihr alles aus der Hand, wobei das Erschreckende daran war, dass sie eine gewisse Erleichterung darüber verspürte. Eva straffte die Schultern und bemühte sich, klar zu denken und den durchdringenden Blick seiner grauen Augen zu ignorieren.
„Natürlich jetzt. Es sei denn, Sie nennen mir einen plausiblen Grund, warum eine Flucht bei Tage weniger gefährlich wäre. Ich rate Ihnen, etwas Praktisches anzuziehen, ein einfaches Kleid und einen Mantel. Vorausgesetzt, Sie besitzen ein Kleid, wie es eine einfache Frau aus dem Volk tragen würde.“ Sein Blick wanderte über das kostbare rote Seidenkleid mit dem Streublumenmuster bis zu ihren vornehmen Seidenschuhen.
„Ich muss packen“,erklärte Eva verwirrt. Wie aber wollte er sie aus der streng bewachten Burg bringen?
„Nehmen Sie nur das Nötigste mit – ein zweites Kleid und Untergewänder, mehr nicht.“
„Aber es wird Tage dauern, bis wir England erreichen. Ich brauche Garderobe zum Wechseln.“ Bei Hofe war es üblich, sich auch ohne besondere Anlässe mindestens viermal am Tag umzuziehen.
„Wir können uns unterwegs die wichtigsten Dinge besorgen. Haben Sie eine Reisetasche hier im Zimmer?“
„Natürlich nicht. Ich klingle meiner Zofe, sie muss mir beim Umkleiden helfen. Aber wie soll ich ihr erklären, dass ich noch heute Abend eine Reisetasche benötige?“
„Sagen Sie ihr, Sie wollen alte Kleider aussortieren, um sie den Armen zu schenken. Nein, besser noch: Sie kennen eine bedürftige junge Frau in der Stadt mit der Aussicht auf eine Stelle als Gouvernante, der Sie ein paar ausrangierte Kleider überlassen wollen. Danach bitten Sie Ihre Zofe, Sie zur Nacht vorzubereiten. Sie schützen Kopfschmerzen vor und wollen später nicht mehr gestört werden.“
„Und wie, bitte schön, soll ich später ein Kleid ohne Hilfe meiner Zofe anziehen?“ Sie kannte die Antwort, ehe sie die Frage ausgesprochen hatte. „Vermutlich werden Sie mir gleich sagen, ein Gesandter des Königs wird unter anderem auch als Zofe ausgebildet.“
„Das nicht. Allerdings sehe ich mich in der Lage, Schleifen mit geschlossenen Augen zu binden“, gestand er mit einem Anflug von Ironie.
„Das kann ich mir lebhaft vorstellen, Mr. Ryder“, entgegnete Eva schneidend. Er konnte sie zweifellos auch mit geschlossenen Augen lösen. Frauen, die ein Faible für überhebliche Männer hatten, mochten ihn attraktiv finden. Gottlob war sie gegen jegliche männliche Reize gefeit. Sie zog heftig an der Klingelschnur und beobachtete mit einer Spur maliziöser Neugier, wo Mr. Ryder Zuflucht suchen würde, doch es schien ihn keineswegs zu stören, auf allen vieren unters Bett zu kriechen.
Irgend etwas an diesem selbstherrlichen Engländer, der auf alles eine passende Erwiderung zu haben schien, weckte in ihr den Wunsch, ihn aufs Glatteis zu führen.
„Sie haben geklingelt, Königliche Hoheit?“ Ihre Zofe Hortense huschte in ihrer bescheidenen Art ins Zimmer.
„Lassen Sie bitte meine Koffer bringen, Hortense.“
„Jetzt, Madame? Ihr ganzes Gepäck? Sie wollen packen?“
„Ja, mein ganzes Gepäck. Aber natürlich will ich nicht packen, Hortense. Ich beabsichtige lediglich, mir eine neue Kofferkollektion aus Paris kommen zu lassen, und möchte nachsehen, welche alten Stücke ich aussortieren kann.“ Es gab keinerlei Veranlassung, die von Mr. Ryder vorgeschlagene Ausrede nicht zu verwenden – sie entschied sich aber aus purem Eigensinn für einen anderen Grund.
Eva neigte keineswegs dazu, exzentrische Wünsche zu äußern, auch behandelte sie ihre Dienerschaft gut. Diese Bitte zur Abendstunde musste Hortense gewiss befremden, jedoch war sie
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