HISTORICAL Band 0272
wäre im Sinne des jungen Großherzogs, wenn seine Mutter bei ihm ist.“
„Der Prinzregent? Aber er zeigte kaum Interesse an Frédéric, seit er ihm zur Taufe einen Brief und ein Geschenk geschickt hat.“ Sie wünschte, sich bewegen zu können, aber die Notwendigkeit, den Brieföffner vor dem Eindringling zu verbergen, hielt sie am Schreibtisch gefangen.
„Wie dem auch sei, Ma’am, der britischen Regierung liegen die Geschicke des Herzogtums Maubourg am Herzen, zumal in diesen unruhigen Kriegszeiten. England ist sich der diplomatischen Bedeutung eines neutralen Landes wohl bewusst, einer Enklave im feindlichen Frankreich, mag sie auch noch so klein sein.“
Eva quittierte seine Erläuterungen mit einem ungerührten Achselzucken. Er hatte ihr nichts Neues gesagt. „Vermutlich sind Sie davon unterrichtet, dass mein verstorbener Gemahl alles unternahm, was in seiner Macht stand, um zwischen den feindlichen Mächten zu vermitteln und die Situation zu entschärfen. Er war selbstredend ein Gegner der jüngsten Bestrebungen Frankreichs, wobei er sich keinen Illusionen hingab, in irgendeiner Form aktiven Widerstand leisten zu können.“
„Wenn ich mich recht entsinne, lernten Sie den Großherzog in England kennen.“ Ryders wachsamer Blick flog erneut durch den Raum, aus gewohntem Argwohn, wie Eva vermutete, nicht weil er etwas Bestimmtes suchte. Seine Kenntnisse über ihre Vergangenheit waren kein Beweis, dass er im Auftrag der britischen Regierung handelte. Jeder, der sich für die Geschichte des Herzogtums interessierte, hätte sich darüber informieren können, da die Zeitungen in jüngster Zeit ausgiebig darüber berichtet hatten.
Sie neigte den Kopf seitlich. „Wir befanden uns damals im Exil. Mein Vater war in den Wirren der Revolution umgekommen, und meine Mutter war zu Ihrem Vater, dem Earl of Allgrave, zurückgekehrt. Ich hatte mein Debüt in London und lernte den Großherzog auf meinem ersten Ball kennen.“
Im Rückblick erschien ihr diese Begegnung wie ein Märchen. Der hochgewachsene, dunkel gelockte Louis Frédéric, elegant und weltgewandt, eine ausgesprochen exotische Erscheinung in der englischen Gesellschaft, war eine glänzende Partie, die ihre kühnsten Träume übertraf. Der Umstand, dass er dreißig Jahre älter war als Eva mit ihren kaum siebzehn Jahren, hatte weder bei ihrer Mutter noch bei ihr Bedenken ausgelöst.
Der Großherzog, der in London erfolgreiche Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch geführt hatte, machte ihr leidenschaftlich den Hof und kehrte mit seiner künftigen Großherzogin nach Maubourg zurück. Eva ließ diesen Rückblick auf ihre Vergangenheit seltsam verwundert an sich vorüberziehen. War sie damals tatsächlich so jung und naiv gewesen?
„Und als Ihr Gemahl vor nahezu zwei Jahren verstarb, übernahm sein Bruder Prinz Philippe die Regentschaft und teilt sich mit Ihnen die Vormundschaft für Ihren Sohn.“ Auch mit dieser Aussage wollte dieser Ryder ihr lediglich zu verstehen geben, dass er über die Hintergründe unterrichtet war, selbst wenn er nicht auf dem neuesten Stand zu sein schien. Sie beabsichtigte indes keineswegs, ihn davon zu unterrichten, dass Philippe, kurz nachdem die Nachricht von Napoleons Flucht von Elba durchgesickert war, durch eine geheimnisvolle Krankheit ans Bett gefesselt wurde. Dieser Zustand dauerte nun schon beinahe drei Monate an, und Evas Hoffnungen auf seine Genesung sanken mit jedem Tag.
„Richtig“, bestätigte sie. Ihre Beine zitterten nun nicht mehr so stark, und sie legte ihre linke Hand wie von ungefähr um die Stuhllehne. Falls der Fremde sich auf sie stürzte, würde sie ihm den Stuhl entgegenschleudern. „Ich habe meinen Sohn seit fast vier Jahren nicht gesehen. Mein Gemahl hielt es für angebracht, ihn in England erziehen zu lassen.“
Der Schmerz über Louis’ selbstherrlichen Entschluss versetzte ihr bis heute einen Stich ins Herz. Louis hatte ihr nicht einmal gestattet, sich von ihrem Sohn zu verabschieden. Damals rechtfertigte er sein eigenmächtiges Verhalten mit der fadenscheinigen Ausflucht, ihre Tränen würden das Kind nur verwirren. Zunächst wurde Freddie gemeinsam mit den Söhnen einer aristokratischen Familie von Privatlehrern unterrichtet, und später kam er nach Eton. Mein kleiner Freddie, würde er mich überhaupt noch erkennen?
„Was ich Ihnen nun zu sagen habe, fällt mir nicht leicht“, begann Ryder, und Eva spürte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. Alarmglocken schrillten in
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