Historical Collection Band 5
sie ihn jetzt nicht besser abweisen? Oder würde der Abschied einfacher sein, wenn sie noch einmal nachgab und ihnen beiden diesen letzten gemeinsamen Moment gönnte? Sie kniff die Augen zusammen und krallte sich mit den Fingern in die harten Muskeln seiner Arme. Sollte sie ihn an sich ziehen oder ihn wegstoßen? Sie wusste es nicht. Er lag mit seinem schweren Gewicht auf ihr, hielt sie unter sich fest. Aber ihr Körper gab ohne ihr Zutun die Antwort, denn Hitze breitete sich in ihr aus.
Da wurden sie von einem lauten Pochen an der Tür aufgeschreckt.
Cheng sprang aus dem Bett, Jia zog ihr Kleid vor der Brust zusammen. Beide schauten gebannt zur Tür. Es hämmerte noch einmal. Mit einem lauten Krachen sprang die Tür auf und drei bewaffnete Männer stürmten ins Zimmer. Sie trugen die Abzeichen der Goldenen Adler , einer kaiserlichen Wachtruppe, auf Rüstung und Schwertern. Der befehlshabende Offizier deutete mit zwei Fingern auf Cheng.
„Ergreift ihn!“
„Was hat das zu bedeuten?“, wollte Cheng wissen.
Die zwei Wachmänner traten auf ihn zu, aber er stieß sie heftig zurück. Er hatte nur eine Hose an, aber selbst in dieser spärlichen Kleidung ragte er groß und stark über ihnen auf. Die Männer griffen zu den Waffen, und Jia schrie auf. Da erst wurden die Wachmänner auf sie aufmerksam.
Sie nestelte an ihrer Taillenschärpe, als einer der Angreifer auf sie zukam. Es gelang ihr noch, mit zitternden Fingern ihr Kleid zu schließen, bevor er sie erreichte. Der junge Mann warf ihr einen warnenden Blick zu und streckte einen Arm aus, um sie zurückzuhalten.
Cheng stritt laut mit dem Befehlshaber herum, und nach dem, was ihre Kumpane ihr von dem Überfall erzählt hatten, hatte sie Angst, Cheng würde sich wieder heftig zur Wehr setzen. Die Goldenen Adler gingen auf Streife in der Stadt. Sie waren die Gesetzeshüter in Chang’an und berechtigt, jemanden wegen eines Vergehens zu verhaften und seiner Strafe zuzuführen.
„Er ist doch ein Scholar“, schrie Jia laut. „Er ist nur hier, um sein Examen zu machen.“
Der Offizier sah zu Cheng, dann zu ihr. Mit diesem einen Blick tat er sie als unbedeutende Musikantin ab, aber zumindest sprach er mit einem kleinen bisschen mehr Respekt zu Cheng.
„Ihr müsst mit uns kommen“, sagte er. „Ihr seid des Diebstahls angeklagt.“
Sie war starr vor Entsetzen. Das Gedichtbuch. Guo hatte sie irgendwie entdeckt.
Sie öffnete den Mund zum Sprechen, aber Cheng warf ihr einen warnenden Blick zu, damit sie nichts sagte. Er hob seine Tunika vom Boden auf und steckte erst einen Arm, dann den anderen in die Ärmel. Als er fertig bekleidet war, hielten ihn die Wachmänner an beiden Armen fest.
Die Prüfungen. Heute Morgen waren die Prüfungen, und Cheng wurde gerade verhaftet.
„Cheng.“ Sie streckte die Arme nach ihm aus, als er zur Tür gezerrt wurde. Sie musste etwas tun.
Cheng versuchte ruhig zu bleiben. „Wende dich an Minister Lo.“
Sie nickte stumm. Cheng schaute sie beschwörend an, solange er konnte, bevor ihn die Wachen fortstießen.
Jia versuchte es. Sie tat alles, was sie konnte, um an Minister Lo heranzukommen.
Der Verwaltungsbezirk war im äußersten Norden der Stadt. Jia verließ ihren Häuserblock und eilte zur Hauptstraße, die mitten durch das Zentrum von Chang’an verlief. Sie nahm eine Sänfte, um keine Zeit zu vergeuden, und feilschte nicht einmal um den Fahrpreis. Die Märkte wurden innerhalb der nächsten Stunde geöffnet, und es wurde bereits voll auf den Straßen. Sie waren nur ein paar Straßen weiter gekommen, als der Gong fünfmal ertönte. Die Stunde des Drachen.
Ein Gefühl der Hilflosigkeit breitete sich in ihr aus. Sie hielt sich krampfhaft am Fensterrahmen der Sänfte fest und versuchte ruhig durchzuatmen, obwohl ihre Brust sich so eng anfühlte. Ihre Augen brannten. Der nächste Gongschlag würde die Stunde der Schlange verkünden. Dann würden sich die Türen der Prüfungshallen endgültig schließen.
Selbst wenn sie fliegen könnte, selbst wenn sie rechtzeitig vor der nächsten Doppelstunde an den Türen der Verwaltungsgebäude ankam, hatte sie immer noch keine Ahnung, wie sie Chengs Wohltäter eigentlich finden sollte. Es gab Tausende von Beamten in der Stadt, unzählige Büros und Zweigstellen von Behörden. Außerhalb der Grenzen ihres eigenen Bezirks wusste sie nicht viel über Chang’an.
Ihr Herz sank, und sie krallte die Fingernägel in den Holzrahmen der Sänfte. Sie war nicht sentimental, aber sehr wütend. Das
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