Historical Exclusiv 45
mit der gleichen Grausamkeit beherrscht, die schon sein Vater gezeigt hatte. Hieß es nicht, Quinn sei das vollkommene Ebenbild von Jerome?
Doch all dies hatte nichts mehr mit seinem Leben zu tun. Dieser Abschnitt war vorbei und vergangen, zum Guten oder Schlechten.
Vom Feld ertönte der Jubel der Menge mit erneuter Kraft. Irgendjemand hatte einen Kampf gewonnen, aber Yves kümmerte es nicht. Er drehte den Becher in seinen Händen und starrte in die Kreise, die der Wein zog.
Er hatte die Vergangenheit bisher mit Erfolg aus seinen Gedanken vertrieben, und sie sollten niemals wieder zurückkehren. Sein Leben würde weitergehen, wie es in den vergangenen Jahren verlaufen war. Yves blieb der Mann ohne Vergangenheit am Hofe des Herzogs, und er war dankbar dafür.
Aber die Erinnerung an das Bild seiner Schwester, als er sie das letzte Mal sah, würde er nicht mehr so leicht vertreiben können wie früher.
Die Sonne stand mittlerweile tief am Himmel, als ein Rascheln an der Zeltöffnung zu hören war. Yves sah nicht auf. „Ich will nicht gestört werden, Gaston“, sagte er und fuhr sich mit müder Geste über die Stirn. Ein paar Stunden Schlaf sollten Annelises Geist wieder verschwinden lassen. „Ich brauche Schlaf.“
„Dafür ist es zu spät.“
Bei dem Klang einer weiblichen Stimme fuhr er herum.
Die Dame zögerte an der Schwelle, ihre entschlossenen Worte tönten Yves in den Ohren wider. Sie trug einen Kapuzenmantel aus brauner Wolle, der sie von Kopf bis Fuß verhüllte. Sie war groß, doch sonst konnte er nur wenig von ihrer Gestalt erahnen.
Aus der Art und Weise, wie sie sprach, nahm er an, sie sei von nobler Geburt. Und sie hatte die stolze Haltung einer Prinzessin.
Es war seltsam, dass eine so hochgeborene Frau hierher kam, dennoch wartete Yves auf eine Erklärung. Unter seinen Blicken nahm die Dame ihre Kapuze ab, und er sah direkt in ihre entschlossen blickenden violetten Augen.
Man kann sie nicht gerade schön nennen, war sein erster Gedanke. Das dunkle Haar war auf eine wenig schmeichelhafte Weise straff zurückgekämmt, ihre Züge waren ebenmäßig und angenehm, doch ohne Wangenrot und Augenschminke eher unscheinbar.
In ihren Augen leuchtete ein Verstand, den man nicht übersehen konnte.
„Mein Name ist Gabrielle de Perricault“, sagte sie. Ihre Stimme war melodisch, der Ton fest, aber leise, damit niemand sie belauschen konnte.
Verwundert starrte er sie an. Niemals zuvor hatte er eine Frau getroffen, die so wenig Wert auf Tand und Schmuck und die Wirkung gab, die das weibliche Geschlecht auf Männer ausüben konnte. War sie eine der Damen, von denen Gaston behauptet hatte, er, Yves, hätte heute ihre Gunst gewonnen?
Gewiss nicht!
Ihre Lippen wurden schmal, als sie weitersprach, und ihre direkten Worte erstaunten ihn aufs Neue. „Ich muss einen Ritter und Anführer für meine Männer anwerben.“ Sie hielt seinem Blick stand. „Ich hörte, Ihr seid der Beste.“
Yves hob eine Augenbraue, er wollte sein Interesse nicht zeigen. „Ihr trefft Eure Wahl auf ein Gerücht hin?“
Wäre sie ein Mann, hätte er ihre Worte verächtlich abgetan. Ihre Blicke wurden eindringlicher. „Gerüchte mögen mich zu diesem Turnier gebracht haben“, entgegnete sie. „Doch es ist meine eigene Einschätzung, die mich in dieses Zelt führt.“
„Ihr habt dem Turnier zugesehen?“
„Gewiss. Ihr habt Stärke und Geschicklichkeit im Kampf gezeigt. Eine tödliche Kombination, wie Ihr heute bewiesen habt.“
Dieser klaren Beurteilung konnte Yves nicht widersprechen. Er war indes sehr erstaunt, eine Frau kennenzulernen, die Verstand besaß. Das überstieg so sehr seine Erfahrungen, die er am Hofe des Herzogs gemacht hatte, wo die Damen nur von Geschmeide, Prunk und Tändeleien sprachen, dass er nicht gleich die rechten Worte fand.
Lange Zeit starrten sich die beiden an. Die Menge lärmte in der Ferne, und Gabrielle zuckte zusammen. Unruhig warf sie einen Blick über ihre Schulter.
„Niemand darf mich hier sehen“, murmelte sie.
Yves antwortete, ohne nachzudenken. „Ich werde niemandem von Eurem Besuch erzählen“, versicherte er ihr.
Das zarte, zustimmende Lächeln, das die Lippen der Dame umspielte, traf ihn tief und unerwartet ins Herz. Wie hatte er nur einen Augenblick glauben können, sie wäre unscheinbar?
„Ich hörte auch, Ihr seid ein Mann von Ehre“, sagte sie, und ihre leise Stimme drang in sein Herz. „Wie angenehm, dies bestätigt zu sehen.“
Yves spürte, wie sein Herz schneller
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