Historical Exclusiv 45
empfundener Zärtlichkeit zum ersten Mal ohne Widerstreben, und er wusste mit völliger Klarheit, was er zu tun hatte.
Er überließ das Steuerruder einen Moment sich selbst, nahm Yvaines Gesicht in beide Hände, senkte den Blick tief in ihre Augen und legte alle Überzeugungskraft in seine Stimme.
„Vertrau mir“, sagte er. „Lege deine Ehre und deinen Stolz nur für kurze Zeit in meine Hände.“
8. KAPITEL
I hm vertrauen? Hatte sie eine andere Wahl? Nach Verlassen des Schiffs war Roriks Hand ihr einziger Anker in einem Meer aus Lärm und Verwirrung, in das sie eintauchte.
Freudenschreie klangen ihr in den Ohren, mit denen Ehemänner und Väter von ihren Familien begrüßt wurden. Männer schlugen Freunden und Brüdern derb auf die Schultern; Kinder rannten lachend und kreischend durch die Menge. Gelegentlich wurde auch sie mit freundlichen Worten begrüßt, Worte, die sie nickend entgegennahm, da sie nicht schnell genug übersetzen konnte. Ihr Verstand war immer noch benommen von dem Augenblick, als Rorik von ihrer Ehre und ihrem Stolz gesprochen hatte.
Und als der erste Sturm der Begeisterung sich legte und die Seefahrer sich unter die Menge mischten, veränderten sich die Mienen, wurden kühl und abschätzend. Neugierige Fragen wurden laut, erfüllten die Luft wie das Summen eines Bienenschwarms. Als Rorik sich schließlich aus dem Gedränge befreien konnte, führte er Yvaine einen Wiesenweg entlang zu einer Siedlung aus Holzhäusern, die sich am Fuß eines bewaldeten Hanges befand. Die neugierige Menge folgte ihnen durch den Eingang des größten Hauses.
Yvaine war momentan durch das plötzliche Dunkel im Haus geblendet, hatte den Eindruck, durch einen kurzen Flur geführt zu werden, dann durch eine weitere Tür in eine erleuchtete Halle.
Ihr erster Eindruck war der eines sehr großen Raumes, länger als die Halle des Königs in Winchester und prachtvoll ausgestattet. Zwei Reihen geschnitzter Holzsäulen in kunstvoll verschlungenen Mustern aus Ranken und Fabelwesen trugen das Dach. Auf der freien Fläche dazwischen war eine gemauerte Feuerstelle in den Boden eingelassen. An den Längsseiten standen breite, mit Fellen bedeckte Bänke, die genügend Platz boten, um darauf zu schlafen. An der Stirnseite auf einem erhöhten Podest standen zwei hohe Lehnstühle, gleichfalls mit reichen Schnitzereien verziert. Eine seitliche Tür führte in einen Nebenraum, vermutlich in das Privatgemach des Jarls. An einer Seite des Podiums stand eine weitere Bank. An der anderen Wand stand ein hoher Webstuhl mit einem halb fertigen farbenprächtigen Wandbehang. Von der Feuerstelle kräuselte sich eine Rauchsäule zum offenen Abzug im Dach. Die Luft im Raum war erstaunlich frisch, dank der viereckigen Öffnungen in den Längswänden. Obwohl die Fensterläden offen standen, drang nur wenig Tageslicht in den großen Raum. Das Licht kam von schalenförmigen Öllampen, die von dreibeinigen Eisengestellen gehalten wurden. Dochte aus getrocknetem Moos schwammen in Öl – Fischtran, überlegte Yvaine schnuppernd.
Die flackernden Lichter ließen einen riesigen Holzschild aufleuchten, der über einem der hohen Stühle hing. Goldene Platten und Edelsteine verzierten den Rand. Die farbenprächtige Malerei in der Mitte stellte Krieger und Tiere in Kampfpositionen dar.
Unter dem Schild im hohen Lehnstuhl kauerte eine Männergestalt, eingehüllt in Felldecken. Der Greis beobachtete den Einzug in die Halle aus halb geschlossenen Augen.
Yvaine wusste, wer er war, wusste auch, dass dieser von Krankheit gezeichnete Greis einst ein kraftvoller, hoch gewachsener Mann gewesen war, nicht anders als sein Sohn. Sein abgezehrtes, fahles Gesicht hatte einst ebenso markant geschnittene, kühne Züge aufgewiesen.
Als Rorik Yvaine durch die Halle zum Stuhl seines Vaters führte und dessen ausgestreckten Arm mit festem Griff umfing, staunte sie über die Welle der Sympathie, die der alte Mann ausstrahlte.
Und dann ertönte eine Frauenstimme aus dem Hintergrund, bei deren schrillem Klang ein Frösteln Yvaine über den Rücken strich.
„Aha, das ist also der Grund für deine vorzeitige Rückkehr, Rorik.“
Yvaine drehte sich nach der Stimme um und begegnete einem Paar hellblauer Augen. Othars Augen.
„Gunhild“, grüßte Rorik kühl.
Othars Mutter musterte Yvaine von Kopf bis Fuß und schürzte verächtlich die schmalen Lippen. „Wer ist diese Fremde, die du uns bringst, Rorik? Ihren Kleidern nach könnte man sie für eine Norwegerin
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