Historical Exclusiv 45
hat eine gewisse Anziehung – auf seine barbarische Art.“
Anna suchte den Blick ihrer Herrin, erschrocken über ihr Geständnis. Und dann prusteten die beiden Frauen vor Lachen.
Der Heiterkeitsausbruch löste Yvaines innere Spannung. Sie konnte der Verlockung nicht widerstehen, kramte wieder in der Kiste und zog ein gelbes, ebenfalls gefälteltes Gewand mit kurzen, angereihten Ärmeln hervor. Darunter lagen Schmuckstücke auf einem hellen Wolltuch.
„Sehr kunstvoll.“ Anna nahm eine ovale goldene Spange zur Hand und betrachtete sie mit Kennerblick. „Seht die ineinander verschlungenen Tierdarstellungen. Und hier dieses silberne Halsband ist mit Bergkristallen besetzt.“
„Norwegen ist berühmt für seine Kunsthandwerker.“ Yvaine nahm eine Halskette aus glitzernden Glasperlen zur Hand. „Diese Kette trage ich“, entschied sie, „zusammen mit dem gelben Gewand und der elfenbeinfarbenen Tunika.“
„Seltsam, sie ist an den Seiten offen“, stellte Anna fest und drehte das Kleidungsstück zwischen den Händen.
„Sie hängt lose von den Schultern und bedeckt das Gewand vorne und im Rücken wie eine Schürze. Siehst du, man befestigt den Umhang an den Schultern mit Spangen, und diese Kette hängt von der Brosche an der rechten Schulter.“ Sie hielt eine feingliedrige Goldkette hoch. „An solchen Ketten trägt die Herrin des Hauses die Schlüssel und andere Gegenstände, etwa einen Kamm oder einen seidenen Beutel.“
„Woher wisst Ihr das alles, Lady?“
„Aus den nordischen Sagas“, erklärte Yvaine, während sie darauf achtete, dass Anna die Schmuckstücke an der richtigen Stelle anbrachte. „Schon als Kind habe ich den Geschichten voller Begeisterung gelauscht, konnte nicht genug davon kriegen. Aber, Anna …“, sie wandte sich an die Freundin, „wie hätte ich ahnen sollen, dass ich einmal wie die Edelfrauen in diesen Sagas entführt werde? Welchen Sinn haben all die schönen Dinge, wenn ich in meinem Herzen Engländerin bin und bleibe? Rorik wird sich nicht davon abhalten lassen, mir nachzustellen. Ach, hätte ich ihn nur gleich zu Beginn angefleht, mich gegen Lösegeld freizugeben, statt mit ihm zu zanken und Forderungen zu stellen.“
„Euch trifft keine Schuld“, entgegnete Anna gelassen. „Ich bezweifele, dass Rorik Euch damals gegen Lösegeld die Freiheit gegeben hätte, und jetzt tut er es gewiss nicht mehr. Ich glaube kaum, dass es einen zweiten Mann auf der Welt gibt, der so entschlossen ist, eine Frau zu besitzen.“
Yvaine machte ein bestürztes Gesicht. „Denkst du, er wird mich zwingen, wenn ich ihn abweise? Denkst du, ich habe mir nur eingeredet, er sei ein ehrenhafter Mann?“
„Nein. Rorik ist ein ehrenhafter Mann, das steht fest. Die Frage ist, könnt Ihr ihm widerstehen? Habt Ihr Angst vor Rorik oder vor Euch selber?“
Yvaine schüttelte den Kopf. „So ähnlich hast du schon auf dem Schiff geredet. Ich konnte dir damals keine Antwort geben, und ich kann es auch jetzt nicht.“
„Aber Ihr fühlt Euch zu ihm hingezogen. Das habe ich gespürt, und nun sagt Ihr es selber.“
„Ja. Welche Frau würde sich nicht zu ihm hingezogen fühlen? Er sieht gut aus, er hat uns beschützt. Gott allein weiß, was ohne ihn aus uns geworden wäre …“ Sie wandte den Blick zur Zeltklappe. Dahinter lag ihre Zukunft – oder ihr Verderben. Sie wusste nicht, wieso ihr dieser Gedanke durch den Sinn schoss; er war einfach da, erschreckend in seiner Klarheit. Aber da war noch mehr – eine Vermutung, die sich in ihr Bewusstsein drängte.
„Weißt du, Anna, mir wird soeben etwas klar …“ Sie hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden. „Ich rede ständig von Roriks Ehre, aber was ist mit meiner eigenen?“
„Eure Ehre?“, fragte Anna stirnrunzelnd. „Aber die Ehre einer Frau ist an einen Mann gebunden. Ihr habt weder Vater noch Bruder oder Ehemann.“
„Genau. Und Rorik ist Beschützer und Räuber zugleich. Auf ihn kann ich mich nicht verlassen. Meine Ehre ist meine eigene Verantwortung. Begreifst du das? Ich warte ab, was er tun wird, mache mir Sorgen um meine Auslieferung, als hätte ich keine Wahl.“
„Aber …“
Yvaine ließ sich nicht beirren, ehe Anna auf den Schwachpunkt in ihrer Begründung hinweisen konnte. „Er sagte, er will mir Zeit geben, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, ihm zu gehören. Das sagt er doch nur, weil er davon ausgeht, dass ich mich ihm hingebe. Edward ist zu weit weg, um mich zu befreien, und wenn er von meiner Entführung
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