Historical Exklusiv Band 36
bleibt er denn? wunderte sich Catherine, als sie über die Schulter schaute und James Benjamin nirgendwo zu sehen war. Sie hegte nicht den geringsten Zweifel daran, dass er ihr folgen würde. Warum konnte sie ihn dann nirgends entdecken? Vielleicht war ihr Pferd schneller, und es fiel ihm schwer, sie einzuholen. Dennoch dürfte er nicht so weit zurückbleiben. Catherine trieb ihre Stute an.
In der Abenddämmerung preschte das brave Tier mit trommelnden Hufen über den steinharten Boden. Catherine suchte angestrengt nach den Lichtern des Waisenhauses. Da! Endlich sah sie etwas in dem riesigen düsteren Gemäuer aufflackern. Wenige Minuten später brachte sie ihr Pferd vor dem Tor des Innenhofes zum Stehen.
Catherine ließ sich aus dem Sattel gleiten und lief darauf zu, um es zu öffnen. Da hörte sie plötzlich ein zaghaftes Stimmchen und blieb wie angewurzelt stehen.
„Mylady?“
„Ja?“ Überrascht versuchte Catherine, in dem schwindenden Licht zu erkennen, wer sie gerufen hatte. „Wo bist du?“ Ein kleiner Schatten trat aus dem größeren Schatten des Gebüsches hervor und kam langsam auf sie zu. Erst als er unmittelbar vor ihr stand, erkannte sie ihn. „Aber Willy, was machst du denn hier draußen? Und …“ Staunend hielt Catherine mitten im Satz inne.
Willy hatte etwas gesagt!
Vor Freude wurde ihr einen Moment lang ganz warm ums Herz. Wie wunderbar! Das misshandelte Kind konnte sprechen. Der Kleine sagte jedoch nichts weiter, sondern zerrte an ihrem Umhang und versuchte, sie zu den Stallungen zu ziehen. Sie stemmte sich dagegen, und beide blieben stehen.
„Was ist los, Willy? Was willst du mir sagen?“
Der Junge ließ den Kopf hängen und flüsterte so leise, dass Catherine gezwungen war, sich zu ihm hinabzubeugen und ihr Ohr ganz dicht an seinen Mund zu halten. „Der Mann hat Laurie in den Kuhstall gebracht.“
„In den Kuhstall?“ Catherine wandte sich um und blickte auf die dunklen Umrisse des Stalles. „Was für ein Mann, Willy? Willy …?“ Sie drehte sich wieder um, da war der kleine Junge verschwunden. „Willy! Komm zurück!“ Alles blieb still.
Catherine raffte ihre Röcke und lief zum Stall. Wenige Meter vor der Tür besann sie sich darauf, lieber vorsichtig zu sein. Sie zog die Pistole aus der Tasche ihres Umhanges und schlich nahezu lautlos weiter. Die Tür war nur angelehnt. Catherine lauschte. War dort Atmen zu hören? Leise und ganz schwach?
Vorsichtig zog sie die Tür etwas weiter auf, zuckte zusammen, als die Scharniere quietschten, steckte aber dennoch den Kopf durch den Spalt.
Drinnen war es stockfinster. Sie schlüpfte hinein und blieb gleich wieder stehen, um zu lauschen. Ja, da atmete jemand, und … war das nicht ein Wimmern?
„Laurie?“ Schweigen. Dann ein schwaches Stöhnen. Behutsam bewegte sich Catherine in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Mit ihrer Schuhspitze stieß sie gegen etwas Weiches. Sie kauerte sich nieder und tastete danach.
„Laurie?“ Mit ihren Fingern fühlte sie weiche, oft gewaschene Baumwolle und die straffe Haut eines junges Körpers. „Laurie!“ War sie zu spät gekommen?
Plötzlich war die Umgebung in helles Laternenlicht getaucht. Die Tür fiel knarrend zu. Ein strenger Geruch stieg ihr in die Nase. Catherine fuhr herum, riss die Pistole hoch.
Ehe sie überhaupt daran denken konnte, einen Schuss abzufeuern, war er über ihr. Mit seinem massigen Körper warf er sich gegen sie und riss sie zu Boden, sodass sie rückwärts ins Heu fiel. Auf ihr liegend packte er sie brutal am Handgelenk, entwand ihr die Pistole und warf die Waffe im hohen Bogen zur Seite. Mit beiden Händen hielt er ihr Gesicht umklammert.
Sie öffnete den Mund und wollte schreien, aber sofort wurde ihr etwas Raues in den Mund gestopft, und sie brachte keinen Ton mehr heraus. Dann riss er ihren Kopf nach vorn und verknotete die Bänder des Knebels so fest, dass sie ihr in die Wundwinkel schnitten. Catherine wurde beinahe übel von diesem Gestank.
Ihr Kopf fiel nach hinten, und sie blickte in die weit aufgerissenen Augen von Kirby Stalling, der sie hasserfüllt anblickte.
„Hure! Teufelin!“, fauchte er sie an, und Speicheltropfen flogen ihr ins Gesicht. Sie versuchte, den Kopf abzuwenden, aber er krallte seine kräftigen Finger in ihr Haar. „Jetzt habe ich dich. Endlich habe ich dich. Du wirst keinen Mann mehr in Versuchung führen.“
Catherine rang nach Atem, doch er ließ nicht locker. Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu, sie wand sich
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