historical gold 036 - Der Flug des Falken.doc
sich ihre Stimmung, und sie versuchte, sich auszurechnen, wie lange sie für den Heimweg benötigen würde. Sicher zwei bis drei Tage, es sei denn, sie hatte das Glück, einem Fuhrmann zu begegnen, der mit seinem Wagen in ihre Richtung fuhr.
„Sind Mylord Shropshire und Sieur Richard eigentlich Brüder?" nahm sie die Unterhaltung wieder auf.
„Halbgeschwister", erklärte Ralph. „Richard de Lancey ist ein älterer Bastardbruder des Earl und Kastellan von Montford Castle, Mylords zweiter, weiter im Süden gelege nen Veste.
Zur Zeit weilt er hier in Warfield zu Besuch."
Warfield! Jäh entsann sich Meriel, dass es der Baron of Warfield gewesen war, der vor fünf Sommern die im Kampf Verletzten nach Lambourn Priory gebracht und sie selbst dann unbedachten Verhaltens gescholten hatte. Wie ein Vorhang zerriss der Schleier des Vergessens, und sie sah sich im Gespräch mit dem jungen Ritter. Nun nahm es sie nicht mehr Wunder, dass sie ihn nicht erkannt hatte. Damals war es dämmrig und das unverkennbar hellblonde Haar des Chevalier unter der eisernen Helmhaube verborgen gewesen. Meriel hatte auch nicht mehr an den Zwischenfall ge dacht, nachdem die Kranken entweder gestorben oder genesen und aus dem Stift abgezogen waren. Nach diesem Ereignis war Meriel zwar durch die nächtliche Vision end gültig bewogen worden, nicht den Schleier zu nehmen, doch der Baron of Warfield selbst hatte keinen nachhaltigen Eindruck auf sie gemacht. Wie seltsam, ihm nun wiederzubegegnen, noch dazu im Range eines Earl!
Ein schwaches Lächeln erschien auf ihren Lippen. Noch immer schien er nichts von Frauen zu halten, die sich ohne Begleitung in die Gegend wagten, und so falsch war seine Ansicht wahrlich nicht. Es war ja nicht lange her, dass Meriel die Freiheit auf der Beizjagd genossen hatte, und nun wur de sie als Gefangene nach Warfield gebracht. Es kam ihr wie eine Ironie des Schicksals vor, dass der Baron sie einst vor einer ähnlichen Situation gewarnt hatte.
„Zählt Walter of Evesham zu den Hauptleuten des Earl?" fragte sie neugie rig.
„Ja, er ist sein Marschall und schon seit vielen Jahren bei den Lanceys im ritterlichen Hausdienst", antwortete der Reitknecht. „Angeblich wollte Mylord ihn mit einem Lehen ausstatten, doch er legt keinen Wert auf Ländereien und auch nicht auf eine eigene Familie.
Ich habe ihn oft äußern gehört, Weiber seien nur die Werkzeuge Satans!" Ralph gab Meriel einen Klaps auf die rundliche Kehrseite und meinte lachend: „Der alte Griesgram weiß ja nicht, was er verpasst!"
Meriel de Vere übersah das dreiste Benehmen. Ein Mädchen von niederem Stand hatte sich mit solchen Freizügigkeiten abzufinden. Das Pferd trottete einen steilen Abhang hinauf, und der Anblick, der sich Meriel einen Moment später auf der Kuppe bot, verdrängte sogleich alle anderen Gedanken. „Ist das Warfield Castle?" fragte sie beeindruckt.
„Ja!" bestätigte Ralph stolz und ließ das Tier langsamer gehen, damit Meriel die Burg bewundern konnte. „Die Anlage wurde von einem Baumeister geschaffen, der im Heiligen Land war und dort die Festungsanlagen der Ungläubigen studiert hat. Ich bezweifele, dass es im ganzen Reich noch ein Kastell gibt, das derart wehrhaft und uneinnehmbar ist."
Der Knecht war sicher voreingenommen, doch Meriel sah mit eigenen Augen, dass er nicht übertrieb. Warfield Castle erhob sich auf einem karstigen Bergrücken, der wie ein Fels in der Ebene aufragte. An drei Seiten umschlossen von einem Fluss, vermutlich dem Severn, war die Zwingburg an der vierten durch einen Wallgraben geschützt, den eine Zugbrücke überspannte. Daran schlössen sich die runden Vorwerke und die äußere, stark angeschrägte Ringwehr an, die der inneren Zitadelle mit den hohen, trutzigen Kurtinen, Ecktürmen und Wohngebäuden vorgelagert waren.
„All diese dicken Mauern!" murmelte Meriel staunend. „Und warum sind die vorderen Türme rund?"
„Weil sie so schwerer zu erstürmen sein sollen", antwortete Ralph und trieb den Braunen zu rascherem Trab an. „Im übrigen befinden sich in den Kellern Vorräte, die mindestens für ein Jahr reichen, und die Brunnen versorgen uns ständig mit Wasser."
„Ist die Veste denn je belagert worden?"
„Nein!" erwiderte der Knecht und schüttelte den Kopf. „Wer würde das wohl wagen? Im ganzen Lande gibt es keinen Heerführer, der seinen Tross so lange bei der Stange halten kann, bis Warfield sich ergeben müsste!"
5. KAPITEL
Am Fuße des Burgbergs lag, umfriedet von einer
Weitere Kostenlose Bücher