historical gold 036 - Der Flug des Falken.doc
vertiefte sich in den Anblick der kunstvoll gemalten Ornamente und versuchte, die Fugen des Steinbodens zu zählen. Sie kniete vor dem Kreuz nieder, schaute hinauf und flehte Jesus um Geduld an, erfolglos, wie sie schnell feststellte.
Die Sonne stand zum dritten Male am Firmament, und noch immer wusste Meriel nichts mit sich anzufangen. Sehnsüchtig dachte sie an die Folianten, die sie im Studierzimmer des Earl gesehen hatte, versagte es sich indes, den Seneschall um die Gunst zu bitten, ihr eine der Schriften zu überlassen. Sie wusste zu gut, dass man ihr, der niedriggeborenen Waliserin, die gewiss des Lesens unkundig war, den Wunsch abschlägig bescheiden würde.
Am vierten Morgen hatte sie einen Einfall. Mit einiger Mühe gelang es ihr, die Magd zu überreden, ihr einen Spinnrocken samt Spindel und Schafwolle zu bringen. Vor einem der Fenster sitzend, spann sie danach die meiste Zeit, blickte hin und wieder zum Himmel und trauerte angesichts der vorbeifliegenden Vögel der verlorenen Freiheit nach. Die Aussicht, ein Leben lang hinter Mauern eingeschlossen zu sein, hatte sie bewogen, nicht den Schleier zu nehmen, doch jetzt war alles viel schlimmer.
Solange es hell war, ließ das Dasein sich ertragen. Des Nachts wachte sie jedoch oft verstört, von schrecklichen Träumen geplagt, aus unruhigem Schlafe auf und ängstigte sich.
Sie fand nur Trost im Gebet und hoffte, Adrian of Warfield möge ihrer überdrüssig werden, ehe sie am Ende der Kräfte war.
Die Sonne neigte sich zum fünften Male dem Horizont zu, als unversehens Geräusche im Gang ertönten. Überrascht blickte Meriel auf, denn mittags hatte Margery ihr bereits das Mahl gebracht und würde erst zur Vesper wiederkommen. Die Tür wurde geöffnet, und erstaunt sah sie den Earl of Shropshire eintreten. Ein unerklärliches Gefühl bemächtigte sich ihrer bei seinem Anblick, eine Mischung aus Furcht, Abscheu und Erleichterung, denn nun war das triste Einerlei wenigstens etwas durchbrochen. Adrian of Warfield machte einen ruhigen, entspannten Eindruck, und wider Willen fand Meriel ihn gutaussehend und anziehend.
Adrian schaute Meriel einen Moment schweigend an. Um in dem Entschluss, ihr ungestört Bedenkzeit zu geben, nicht wankend zu werden, hatte er selbst die Reisigen gegen Guy de Burgoignes Soldaten ins Feld geführt. Das Zurückschlagen der Angriffe hatte seine ganze Aufmerksamkeit erfordert und ihn abgelenkt, doch nachts war er in Gedanken oft bei diesem Mädchen gewesen. Schlaflos hatte er sich auf dem Lager hin und her gewälzt, Meriel vor sich gesehen und gleichermaßen Verlangen nach ihr und Gewissensbisse gehabt. Er wusste, er hatte einen Fehler begangen, Meriel nicht freizulassen, doch das ließ sich jetzt nicht mehr rückgängig machen. Im übrigen war es ohnehin besser, dass sie nicht allein durch die Lande zog, denn es hätte ihren Tod bedeuten können. In den Wäldern nordöstlich von Shrewsbury trieb sich Burgoignes Gesindel herum und überwachten alle nach Stafford und Nottingham verlaufenden Straßen.
Es blieb Adrian keine andere Wahl, als den einmal einge schlagenen Weg weiterzubeschreiten. Vielleicht ließ Meriel sich bewegen, anderen Sinnes zu werden. Mit dieser Hoffnung war er nach Warfield zurückgekehrt. „Sei gegrüßt", sagte er freundlich. „Hat man dich in meiner Abwesenheit gut behandelt?"
„Seit wann ist einem Kerkermeister daran gelegen, dass es der Gefangenen gutgeht?"
erwiderte Meriel spöttisch, ohne sich zu erheben.
„Ich bin nicht dein Gefängniswärter!" entgegnete er mit unbehaglicher Miene.
„Nein?" fragte sie und hob eine Braue. „Was dann?"
„Möglicherweise dein Schicksal."
„Du überschätzt dich, Herr", sagte sie und klammerte die Finger fester um die Spindel.
Stirnrunzelnd sah er den Spinnrocken an und erkundigte sich ungehalten: „Wer hat von dir verlangt, dass du arbeitest?"
„Niemand. Ich wollte mich beschäftigen. Da du bekanntermaßen Verschwendung jedweder Art hasst, fiel es mir nicht schwer, die Magd zu überreden. Sollte es deinen Unwillen erregen, dann strafe mich und nicht sie."
„Das habe ich nicht vor", äußerte Adrian barsch. „Aber ich sehe, ich hätte striktere Anweisungen erteilen müssen."
Er schaute Meriel so eindringlich an, dass sie sich unbehaglich zu fühlen begann. Zunächst hatte er noch recht gelassen gewirkt, doch nun schien er verstimmt zu sein. Sie begriff nicht, warum sie ihn offensichtlich aus der Ruhe brachte, und fürchtete, er würde nun von ihr wissen
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