Historical Saison Band 18
wie ein Bruder für sie. Sie wird überglücklich sein, wenn du noch bleibst.“
Lord Fincham betrachtete seinen Begleiter mit halb zusammengekniffenen Augen. Wer ihn in den letzten Minuten beobachtet hatte, hätte zu dem Schluss kommen können, er wäre ganz und gar in Gedanken versunken. Seit er am Fenster des überfüllten Wirtshauses Platz genommen hatte, hatte er noch kein einziges Wort gesprochen. Auch den Krug Bier, den der Wirt vor ihm hingestellt hatte, hatte er nicht angerührt. Allerdings wusste niemand besser als der Gentleman, der ihm gegenübersaß, dass sich hinter der gelangweilten Miene und dem zur Schau gestellten Desinteresse ein messerscharfer Verstand verbarg – eine beinahe beängstigende Intelligenz, die bei anderen Menschen zuweilen Unbehagen hervorrufen konnte.
Als der Viscount schließlich seinen Krug ergriff, fiel der feine Spitzenbesatz seines rechten Ärmels über seinen Handrücken. „Du irrst dich, mein lieber Charles. So herzlich gelangweilt, wie ich derzeit vom Leben bin, stelle ich keine gute Gesellschaft für Louise dar – genauso wenig wie für irgendjemand anderen. Abgesehen davon, dass deine entzückende Frau im Augenblick wahrhaftig andere Sorgen hat. So kurz vor der Niederkunft will sie sich bestimmt nicht mit meiner finsteren Stimmung abgeben.“
Charles Gingham kannte seinen Freund zu gut, um ihn überreden zu wollen. Daher sagte er nur: „Was du brauchst, alter Knabe, ist genau das, womit ich seit einigen Jahren gesegnet bin – die Liebe einer guten Frau.“
Weiße, ebenmäßige Zähne wurden sichtbar, als der Viscount verschmitzt lächelte. „Offensichtlich vergisst du, dass ich bereits eine habe. Caroline ist zweifellos die Erfahrenste, mit der ich je meine Stunden verbracht habe.“
Charles schnaubte verächtlich. „Ich spreche nicht von deinen Paradiesvögeln, Ben. Mein Gott! Von der Sorte hattest du all die Jahre genug. Und keine von ihnen hat dir je etwas bedeutet, wenn ich das richtig beurteile. Nein, was du brauchst, ist eine Ehefrau, eine Dame, die du liebst und schätzt. Jemanden, der deinem Leben eine neue Richtung, einen Sinn gibt.“
Diesmal wirkte das Lächeln des Viscounts zynisch. „Ich glaube kaum, dass mir eine solche Dame jemals begegnen wird, mein lieber Freund. Nein, vielleicht heirate ich ja in ein oder zwei Jahren, und sei es nur, um einen Erben zu zeugen. Immerhin mangelt es einem Mann in meiner Position nicht an Heiratskandidatinnen. Die hoffnungsvollen kleinen Schätzchen werden mir in ermüdender Regelmäßigkeit auf dem Heiratsmarkt präsentiert. Sofern ich es ernsthaft in Betracht ziehe, finde ich gewiss ein weibliches Wesen darunter, das meinen Ansprüchen genügt – blond, von tadellosem Benehmen, pflichtbewusst und fügsam.“
Charles Gingham sah seinen Freund ein wenig traurig an. „Grübelst du immer noch darüber nach, was hätte sein können? Ich weiß, dass du es tust. Wenn ich dich vor all den Jahren nicht mit nach Frankreich gezerrt hätte, wärst du jetzt vielleicht ein glücklich verheirateter Mann.“
„Um meinetwillen brauchst du dir keine Vorwürfe zu machen, Charles“, antwortete der Viscount, wobei ihm anzuhören war, welchen Überdruss ihm dieses Gesprächsthema bereitete. „Sei gewiss, dass dein Mitleid vollkommen unangebracht ist. Charlotte Vane ist Vergangenheit. Sie spielt für mich keine Rolle mehr. Sie hat sich dafür entschieden, Wenbury zu heiraten. Wenn sie meine Rückkehr aus Frankreich abgewartet hätte, wäre sie ohne Frage meine Viscountess geworden. Der frühzeitige Tod meines Bruders kam für alle unerwartet, nicht zuletzt für mich. Ich habe ihn weder um seine führende Stellung in der Familie beneidet, noch jemals den Titel angestrebt. Das Schicksal hat es dennoch so gewollt, dass ich zum Erben wurde. Wenn mein Bruder einen Sohn und keine Tochter gezeugt hätte, würde ich mich glücklich schätzen, den Besitz für meinen Neffen bis zu dessen Mündigkeit zu verwalten. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich die Vorteile, die mir der Titel gewährt, durchaus genieße. Ich glaube aber auch, dass ich meine Pflichten gewissenhaft und mit Rücksicht auf alle erfülle, deren tägliches Auskommen von meinen Entscheidungen abhängt. So fühle ich mich auch verpflichtet, eines Tages zu heiraten. Doch ich kann dir vergewissern, dass Liebe dabei keine Rolle spielen wird. Solange meine zukünftige Braut, wer auch immer sie sein mag, sich zu jeder Zeit wie eine Dame verhält und mich mit einem Erben
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