Historical Weihnachten Band 04: Zeit der Hoffnung, Zeit der Liebe? / Mein Engel der Weihnacht / Ein Weihnachtsmärchen in London
Flanken strich und sie mit einer Möhre fütterte, und seine offensichtliche Zuneigung für das Tier berührte sie zutiefst. Als er die Schultern hängen ließ und die Stirn an den samtigen Hals der Stute lehnte, sah er so ungewohnt verletzlich aus, so einsam und seltsam niedergeschlagen, dass ihr Herz einen Schlag aussetzte.
Als hätte er ihre Nähe gespürt, hob Sebastian den Kopf und sah sie hoch oben im Baum sitzen. Sofort kletterte er zu ihr hinauf, offenbar überzeugt davon, sie bräuchte seine Hilfe, obwohl sie ihm das Gegenteil versicherte. Er erklomm einfach den nächsten Ast und den nächsten, bis er ihr so nah war, so umwerfend gut aussah und so sauber roch, dass die Zuneigung, die Addie all die Jahre für ihn empfunden hatte, sich plötzlich in etwas viel Tieferes verwandelte. Sie fühlte auf einmal eine hilflose Sehnsucht, die sie nicht verstand.
Verwirrt über den seltsamen Wirbelwind der Gefühle in ihr und böse auf Sebastian, weil er an ihrer Verwirrung schuld war, bestand sie ärgerlich darauf, dass er sie allein ließ. Sebastian sah sie nicht minder ärgerlich an und folgte ihrer nicht sehr höflichen Aufforderung. Aus irgendeinem Grund machte sein Gehorsam sie sogar noch wütender, und sie kletterte aufgebracht hinter ihm her. Doch dann verfing sich ihr Rocksaum am untersten Ast, und sie saß fest. Sebastian wandte sich allerdings schon ab und achtete nicht auf ihre Rufe. In ihrer Wut nahm sie den angebissenen Apfel aus der Tasche und warf ihn nach Sebastian. Der Apfel traf ihn genau am Hinterkopf.
Einen Augenblick blieb er regungslos stehen, dann drehte er sich langsam zu ihr um.
Die Lippen fest zusammengepresst, kam er zum Baum zurückmarschiert, ganz offensichtlich entschlossen, ihr eine gehörige Standpauke zu halten. Addie zerrte noch einmal heftig an ihrem Rock, um sich zu befreien. Der Stoff riss, und plötzlich verlor sie das Gleichgewicht. Mit einem erschrockenen Aufschrei fiel sie.
Doch statt auf denkbar unelegante Weise auf der Erde zu landen, fand sie sich in Sebastians Armen wieder. Eine kleine Ewigkeit, wie ihr schien, hatte sie ihm einfach nur in die faszinierenden Augen gestarrt, die sie immer an die Abenddämmerung erinnerten – wenn der späte Nachmittag mit dem Abend verschmolz und dunkles Azurblau den Himmel überzog. Sebastian fragte sie leise, ob es ihr gut ging, und sie nickte, aber es war gelogen. Die Art, wie er sie ansah, nahm ihr den Atem und brachte ihr Herz so heftig zum Pochen, dass es fast wehtat.
Sebastian hatte sie langsam wieder auf die Füße gestellt, doch die Hände hatte er auf ihrer Taille gelassen, und auch sie hatte die Hände nicht von seinen Schultern genommen. „Addie.“ Er hatte ihren Namen leise, beinahe ehrfürchtig ausgesprochen, wie ein Gebet. Dann hatte er den Kopf gebeugt.
Nie hätte Addie sich vorstellen können, wie sehr Sebastians Kuss sie aufwühlen würde. Der Griff seiner Hände um ihre Taille war stärker geworden, und sie hatte sich an seinen Jackenaufschlägen festgehalten, weil sie gefürchtet hatte, ihre Beine würden sie nicht mehr tragen. Und dann war es vorbei gewesen.
Seufzend nahm Addie jetzt die Hand von der Fensterscheibe und wandte sich ab. An jenem Weihnachtsfest hatte sie für Sebastian ein kleines Bild von dem Baum gemalt, unter dem ein angebissener Apfel lag. Und er hatte ihr einen kleinen Goldanhänger geschenkt. Alles war wundervoll gewesen. Bis ihr Vater ihr am zweiten Weihnachtstag erzählt hatte, man sei übereingekommen, Sebastian und Grace würden ein großartiges Paar abgeben. Sobald Grace alt genug sei, ein oder zwei Jahre nach ihrer Einführung in die Gesellschaft, sollte sie Sebastian heiraten und somit zwei Familien endgültig miteinander verbinden, die schon seit Jahren befreundet waren.
Was wäre geschehen, wenn sie damals gesprochen hätte? Wenn sie Sebastian gesagt hätte, was sie für ihn empfand? Hätte es etwas geändert, wenn er gewusst hätte, dass sie ihn liebte? Aber das würde sie jetzt niemals erfahren. Es war zu spät.
Unwillkürlich befingerte Addie die zarte Goldkette um ihren Hals und zog den Anhänger unter ihrem Nachtkleid hervor – ein angeknabberter kleiner Apfel aus Gold ruhte in ihrer Handfläche, noch warm von ihrem Körper, wo er zwischen ihren Brüsten gelegen hatte. Es war Sebastians Geschenk an jenem Weihnachtsfest nach ihrem Kuss. Seitdem hatte sie die Kette keinen einzigen Tag abgenommen. Was natürlich lächerlich war, denn morgen oder spätestens übermorgen würde
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