Historical Weihnachten Band 6
unterworfen waren. Ohne Cecily hätte sie die freudlosen Jahre ihrer Erziehung nicht so gut überstanden. Es wäre nicht gerecht, sie nur deshalb zu verurteilen, weil sie in der ersten glücklichen Zeit mit ihrem Ehemann alles andere vergessen hatte.
Gemeinsam betraten sie die Festhalle, und Cecily bewunderte ihre Weitläufigkeit und die opulente Ausstattung.
„Es ist alles so groß und doch so behaglich hier! Die Efeugirlanden und die Samtvorhänge an den Fenstern, die vielen Kerzen, die Wandmalereien! Das ist sicher alles dein Werk. Wie schön ihr an den Abenden hier gefeiert haben müsst! Ich kann es kaum erwarten, deinen Onkel und die ganze edle Gesellschaft zu treffen. Es war doch in der letzten Zeit ein bisschen ruhig bei uns, fast wie bei einem alten Ehepaar.“
Sie kicherte und plauderte fröhlich weiter, während Giselle sie zu den Gästequartieren führte und der Freundin das Gemach zeigte, in dem sie schlafen sollte.
Als sie sich schließlich wieder allein in der Eingangshalle umsehen konnte, war Myles Buxton verschwunden. Von einem der Diener erfuhr sie, dass er wegen des schlechten Wetters die Nacht über zu bleiben gedachte, und Giselle hoffte inständig, dass aus dieser einen Nacht eine ganze lange Woche werden würde und dass es niemals aufhören würde zu schneien.
An diesem Abend brauchte sie länger als je zuvor, um sich für das Mahl und die anschließenden Vergnügungen umzukleiden, denn sie nahm an, dass Sir Myles mit ihnen an den Hohen Tischen sitzen würde. Doch er kam nicht, ließ sich den ganzen Abend über nicht ein einziges Mal blicken. Verabscheute er sie so sehr, dass er Wutherton Castle womöglich wieder verlassen würde, ohne ein Wort mit ihr zu sprechen?
Aber wenn es so wäre, warum hatte er sich dann die Mühe gemacht, Cecily hierherzubringen? Auch Sir Wilfrid blieb Myles’ Fehlen bei Tisch nicht verborgen, und der alte Brummbär empörte sich lautstark darüber.
„Wenn ihm unsere Gesellschaft so zuwider ist, warum bewirbt er sich dann um deine Hand?“, wetterte er. „Erwartet er vielleicht, dass du dich und deine Familie entehrst, indem du hinter ihm herrennst wie eine läufige Hündin? Soll er doch verschwinden, er ruiniert mir die Weihnachtstage!“
„Jemand von der Dienerschaft hat beobachtet, dass er ins Dorf geritten ist, um im Gasthof sein Mahl einzunehmen“, schaltete Cecily sich ein. Was auch immer zwischen ihrer Freundin und Sir Myles vorgefallen war, sie schlug sich bedingungslos auf Giselles Seite und war im Handumdrehen bereit, kein gutes Haar mehr an Buxton zu lassen. „Sie wollen auch gehört haben, dass er morgen gleich bei Tagesanbruch wieder aufbrechen wird, dieser ungehobelte, überspannte Mensch. Sei froh, meine Liebe, dass die Verbindung nicht zustande gekommen ist. Wie konnte ich mich nur so in ihm täuschen!“
Als der Abend sich schließlich mit Tanz und Gaukeleien dem Ende zuneigte und Cecily erklärte, sie sei müde und wolle sich zurückziehen, ging auch Giselle hinauf in ihr Turmzimmer und bat Mary, ihr beim Auskleiden zu helfen. Es war bereits Mitternacht, und sie war ausgelaugt und erschöpft, doch ehe sie ihre Zofe entließ, gab sie ihr die Anweisung, sie schon beim Morgengrauen wieder zu wecken. Es war Epiphanias, der Dreikönigstag, der zwölfte Tag nach Weihnachten. Wenn es nicht mehr so stark schneite, würden – neben Sir Myles – etliche andere Gäste abreisen, und Giselle sah es als ihre Verpflichtung an, ihnen Lebewohl zu sagen.
Langsam ging sie zu dem kleinen Tisch, auf dem ihre Kämme und Bürsten lagen. Erst jetzt erblickte sie dort den großen, mit einem Tuch bedeckten Kasten, auf dem ein kleines Stück Pergament lag.
„Ein letztes Geschenk“, stand darauf geschrieben. „Lass sie frei, so frei, wie du gerne sein möchtest. Myles.“
Vorsichtig hob Giselle das Tuch und öffnete den Deckel des Kastens. Zwei Turteltauben hockten darin, und als das Licht der Kerzen in ihr dunkles Gefängnis fiel, öffneten sie die Augen, reckten die Hälse und plusterten ihr Gefieder. Eine begann leise zu gurren.
Deshalb war Myles also zurückgekehrt, die Bedeutung der Worte auf dem Pergament war unmissverständlich. Er gab sie frei, beendete sein Werben, verzichtete auf die Heirat. Er nahm an, dass sie ihn nicht wollte. Aber wollte sie ihn wirklich nicht?
Behutsam bedeckte sie den Kasten wieder mit dem Tuch, und die Tauben hörten auf zu gurren und kauerten sich ein, um weiterzuschlafen. Giselle ging zum Fenster und sah hinunter auf
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