Historical Weihnachten Band 6
sich schon ein paar helle Streifen am dunklen Nachthimmel, doch das Licht des hereinbrechenden Morgens war so trüb wie ihre Stimmung.
Der einzige Trost an diesem weiteren düsteren Wintertag war, dass Sir Wutherton ihr bis jetzt noch keine Vorwürfe gemacht hatte. Der alte Brummbär mit dem weichen Herzen glaubte anscheinend nicht, dass sie für Sir Myles’ Abreise verantwortlich war. Er war die Freundlichkeit in Person, machte ihr weder Vorwürfe noch verfolgte er sie mit neugierigen Fragen.
Lustlos ging Giselle zum Spiegel und bürstete ihr langes blondes Haar. Niemand sollte ihr ansehen, wie zerschlagen sie war, und ihre gedrückte Verfassung sollte keine Auswirkung haben auf den Verlauf der Festlichkeiten. Immer wieder mahnte sie sich zur Konzentration auf das Wesentliche und versuchte, ihre Schuldgefühle beiseitezuschieben.
Anstatt jedes Mal, wenn sie den Hufschlag eines Pferdes im Hof hörte, die Luft anzuhalten und hoffnungsvoll auf Myles’ Rückkehr zu lauschen, sollte sie froh sein, dass er mit seinem Verschwinden ein deutliches Zeichen gesetzt hatte. In seinen Augen war sie zu weit gegangen, und wenn sie nicht die ganze Zeit mit ihren eigenen Belangen beschäftigt gewesen wäre, hätte sie vielleicht bemerkt, wie schockiert er war. Mit ein bisschen mehr Anstand und Feingefühl hätte sie verhindern können, dass die Situation sich derart zuspitzte.
Jetzt hatte sie es geschafft, dass er sie hasste.
Mary kam, um Giselle beim Ankleiden zu helfen, und dann begann die alltägliche Routine. Nach der Frühandacht und dem Morgenmahl begann es zu schneien, nur ein paar vereinzelte Flocken zunächst, aber der Schnee konnte durchaus noch dichter werden. Die Edelleute würden im Innern der Burg bleiben, und darauf musste Giselle vorbereitet sein.
Schnell ließ sie die Tische im Saal beiseiterücken, um die Gäste mit Gesellschaftsspielen unterhalten zu können. Auf ihr Geheiß hin ließ Iestyn in der Küche Bratäpfel zubereiten und für die beherzten Männer, die sich trotz des schlechten Wetters lieber draußen aufhalten wollten, Glühwein aufs Feuer stellen. Tatsächlich begann es bald heftiger zu schneien, und die Damen versammelten sich plaudernd mit ihren Stickarbeiten vor dem Kamin. Giselle hatte wenig Lust, sich zu ihnen zu setzen und über die Arbeit hinweg Lady Elizabeths und Lady Alices mitleidigen Blicken zu begegnen. Jede der Damen würde peinlich darauf achten, den Namen Myles Buxton nicht zu erwähnen, um Giselles Gefühle nicht zu verletzen, während die jungen Edelmänner ihr unverhohlen Avancen machen würden.
In solch einer Situation könnte es leicht passieren, dass sie ihre mühsam aufrechterhaltene Fassung verlor, und so beschloss Giselle, trotz des schlechten Wetters einen kleinen Spaziergang zu machen.
Die Steine, mit denen der Burghof gepflastert war, lagen unter einer dünnen Schneedecke, und Giselle verkroch sich vor den immer dichter fallenden Flocken tief in ihren wärmenden Umhang. Wenn ein Schneesturm aufkam, könnte sie draußen leicht die Orientierung verlieren. Vernünftiger wäre es, das Gelände nicht zu verlassen und in der schützenden Nähe der Gebäude zu bleiben.
Missmutig kehrte sie um, hielt jedoch wieder inne, als sie hörte, wie das Fallgitter des Burgtores hochzogen wurde. Wer mochte zu dieser Tageszeit und bei diesem abscheulichen Wetter noch den Weg hierhergefunden haben?
Die Gestalt auf dem Pferd war so vermummt, dass Giselle sie erst erkannte, als sie abstieg und mit weit ausgebreiteten Armen auf sie zukam. „Giselle!“, rief sie durch das Schneegestöber. „Ich bin es, Cecily!“
Mit einem Aufschrei warf Giselle sich ihrer Freundin in die Arme, doch der Rausch des Glücks endete jäh, als sie über deren Schulter hinweg einen zweiten Reiter durch das Burgtor kommen sah. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er ein paar Tage zuvor gruß- und wortlos verschwunden war, hielt Sir Myles Buxton schweigend und mit einem Gesichtsausdruck, den Giselle nicht entschlüsseln konnte, auf sie zu.
Hinter ihm tauchten immer mehr Reiter auf, etwa zehn Soldaten in den Farben der Louvains, die in ihrem Tross mindestens noch einmal so viele Packpferde mitführten. Es sah aus, als hätte Cecily vor, bis zum Sommer zu bleiben.
Einer der herbeigeeilten Stalljungen nahm der Freundin ihr Pferd ab, während Giselle noch überlegte, wie sie in ihrer Anwesenheit mit der Situation umgehen sollte. War sie nicht bei all den Grübeleien immer wieder zu der Erkenntnis
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