Historical Weihnachten Band 6
den schneebedeckten Burghof. Es waren nur noch wenige Wachen auf den Zinnen, denn niemand erwartete Unannehmlichkeiten – es gab nichts zu befürchten, erst recht nicht zu dieser Jahreszeit und bei diesem Wetter.
Plötzlich erblickte Giselle eine weitere Gestalt, die sich mit weit ausholenden Schritten über den Hof auf die Stallungen zubewegte.
Dieser Gang war ihr vertraut. Ohne darüber nachzudenken, ob es sich für eine junge Adelige geziemte oder nicht, warf Giselle ihren dicken Wollumhang über die Schultern, griff nach dem Kasten mit den schlafenden Tauben und rannte so schnell sie konnte die Steintreppe hinunter.
Im Stall war es warm und duftete nach Heu und dem würzigen Geruch der Pferde. Sein Hengst wieherte ihm leise zu, und Sir Myles näherte sich dem stolzen Rappen, tätschelte seinen Hals und flüsterte ein paar Worte zur Begrüßung.
Das Tier stand tief in frischem goldgelbem Stroh und war gut versorgt mit Heu und noch nicht gefrorenem Wasser. Myles fand ein paar Wolldecken und schob etliche Strohballen zu einem provisorischen Lager zusammen. Hier, weg von allen anderen und vor allem von Giselle, wollte er seine letzte Nacht auf Wutherton Castle verbringen. Wäre er doch nur nicht wieder hergekommen, hätte er sie doch nur nicht mehr gesehen!
Er liebte Giselle. Er respektierte sie. Er wollte und er brauchte sie.
Sie war etwas Besonderes, und wenn es überhaupt noch einer Bestätigung bedurft hätte, dann wäre ihm das spätestens nach seinem Ritt mit Lady Cecily klargeworden. Giselle war anders als sie und als all die gezierten, unselbstständigen jungen Adelsfrauen, die er bisher kennengelernt hatte.
Wenn er sich ihr nur mit etwas mehr Geduld und Feingefühl genähert hätte, wenn er sich mehr Mühe gegeben hätte, ihren Drang nach Freiheit zu verstehen!
Was hätte es ihn schon gekostet, ein paar Monate auf sie zu warten? Verlangte sie denn wirklich so viel von ihm? Doch nun hatte er sie verloren, hatte ihre Zuneigung durch Anmaßung verspielt. Sie würde niemals seine Frau werden, und diese Erkenntnis schmerzte so sehr, dass er ihren Anblick nicht mehr ertragen konnte. Je eher er morgen früh aufbrechen konnte, desto besser.
Bei seinem Pferd zu schlafen gab ihm einen Vorsprung, und er brauchte im Morgengrauen nur noch zu satteln.
Plötzlich knarrte die Tür, und ein fahler Lichtschein fiel in die Stallgasse. Eine zarte Gestalt mit einem Kasten in der Hand schlüpfte durch den Spalt.
„Giselle?“, fragte er ungläubig und merkte, dass sein Herz anfing zu rasen.
Der Lichtstreifen verschwand, doch im flackernden Schein der Laterne, die sie mit sich trug, konnte Myles sie deutlich sehen. Deutlich genug, um zu bewundern, wie schön sie war mit ihrem langen offenen Haar, in dem kleine Schneekristalle glitzerten. Sie trug den schweren wollenen Umhang mit der Grazie einer Königin, und mit derselben Anmut schritt sie auf ihn zu.
„Was führt Euch her, so spät in der Nacht und noch dazu ohne Begleitung?“, fragte er verwirrt.
„Ich sah Euch über den Hof gehen und wollte mit Euch sprechen, da ich auf dem Fest heute Abend keine Gelegenheit dazu hatte.“ Und sie hatte seine letzte Gabe mitgebracht, das Sinnbild ihrer Freiheit und somit vermutlich das einzige Geschenk, das ihr willkommen war.
„Ich konnte mich noch nicht dafür bedanken, dass Ihr Cecily hergebracht habt“, fuhr sie fort. „Ihr habt mich reich beschenkt damit, auch mit der hübschen kleinen Stute und mit all Euren anderen Gaben.“
„Ich wollte Euch Freude machen.“
„Das habt Ihr auch.“ Sie streckte eine Hand nach ihm aus und berührte seinen Arm. „Ganz besonders mit diesem letzten Geschenk. Aber ich werde es nicht annehmen.“
Er verstand sie nicht. „Wenn Ihr die Vögel nicht behalten wollt, dann lasst sie frei“, sagte er bitter und hoffte, dass sie die Schwäche in seiner Stimme nicht hörte.
Giselle nickte, öffnete die Stalltür und klappte den Deckel des Kastens hoch. Die Tauben reckten ihre Hälse in die kalte Nachtluft, trippelten, bewegten die Flügel und erhoben sich dann in den schneegrauen Himmel.
„Ihr solltet Euch besser auch davonmachen, Mylady“, bemerkte Sir Myles schroff. „Es könnte unangenehm für Euch werden, wenn man Euch nur mit einem Nachtgewand und einem Umhang bekleidet bei einem Mann entdeckt, mit dem Euch nichts als eine gescheiterte Verlobung verbindet.“
Giselle überhörte seine Ermahnung. „Ihr wäret also abgereist, ohne mir Lebewohl zu sagen?“
„Es gibt nichts
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