Historical Weihnachtsband 1990
dann wandte sie sich mit einer Geste ab, die zwischen einem Schulterzucken und einem Winken lag, und verschwand in die Richtung, aus der sie gekommen war.
„Meine Mutter", erklärte Gray seinem Freund Jack. „Sie hält nicht viel von Vorstellungen. Dazu hat sie zuviel anderes im Sinn. Aber da ist Tom mit dem Wagen.
Fahren wir also zu den Woodcrosses. Jack, Eveline, hinaus mit euch!"
Jacks Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, Eveline die verschneiten Stufen hinunterzuführen. Deshalb bemerkte er erst in der Kutsche, daß sie nur zu dritt waren.
„Und was ist mit Miss Hillyer?" fragte er mit einem Blick auf die Haustür, die sich hinter Gray geschlossen hatte.
„Du meinst Mary? Ach, sie muß bei Grandfather bleiben. Warte nur, bis du ihn kennenlernst. Er ist ein richtiger Brummbär." Gray machte ihn mit einem Knurren nach.
Eveline bot lachend eine Erklärung. „Mary geht nie aus. Sie bleibt lieber zu Hause."
„Wirklich?" Gates erinnerte sich an die verschiedenen Gefühle, die sich in Mary Hillyers braunen Augen widergespiegelt hatten. Durch ihre Augen hatte sie mit ihm gesprochen. Sie hatte etwas gesagt oder gefragt. Er war sich nicht sicher, was von beiden. Einen Moment suchte er nach einer Antwort. Doch dann beanspruchte Eveline seine Aufmerksamkeit, indem sie ihm eine Hand auf den Arm legte. Mit ihrem fröhlichen Lachen brachte sie ihn von den Gedanken an die Zurückgelassenen ab und lenkte sein Interesse auf die Vergnügungen hin, die sie vor sich hatten.
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Mary schaute ihnen nach. Sie schob den Vorhang am Fenster neben der Haustür zurück und sah, wie Gates Evelines Arm nahm, um ihr die Treppe hinunterzuhelfen.
Dann beobachtete Mary, mit welcher Leichtigkeit er ihrer Schwester in den Vierspänner half. Dabei stellte Mary sich vor, wie es wäre, seinen festen Griff zu spüren und sein warmes Lächeln zu sehen. Sie hörte das fröhliche Lachen der Abfahrenden, oder glaubte es zu hören, als Tom auf den Kutschbock stieg und den Pferden die Zügel gab.
Da stieg plötzlich ein ungewohnter Schmerz in ihr auf. Es war nicht nur Jacks gutes Aussehen, das sie berührte, sondern mehr: Die Anmut, mit der er sich bewegte, seine Sicherheit und Überzeugung, als wüßte er, wohin er geht und daß er ankommen würde, als bereitete ihm alles, was er tat, große Befriedigung. Während sie schaute, fragte sich Mary, wie es wäre, einen Abend mit ihm zu verbringen. Sie malte sich sein Lächeln aus und das Gefühl seiner Arme, wenn er sie beim Tanz führte. Nur einen einzigen besonderen Abend würde sie sich wünschen, kein ganzes Leben lang. Schließlich war sie nicht Aschenputtel, sondern nur die einfache Mary Hillyer.
Der Wagen fuhr aus dem Hof, und seine Reifen hinterließen zwei Furchen im tiefen Schnee. Zweifellos ist Eveline bereits in Mr. Gates verliebt, dachte Mary. Eveline verliebte sich in jeden Mann, der ihr begegnete, und eine große Anzahl von ihnen verliebte sich auch in Eveline. Vielleicht machte Gates ihr einen Heiratsantrag, und möglicherweise würde sie ja sagen. Dann würden sie heiraten und nach Boston ziehen, wie ihre Schwester Sophia es getan hatte. Sophia war achtundzwanzig und seit zehn Jahren verheiratet. Sie hatte fünf Kinder, und Florence, die einundzwanzig war, hatte auch schon zwei. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Eveline ebenfalls einen Mann und Kinder hatte, die sie zum Weihnachtsfest zu ihrer unverheirateten Tante Mary bringen konnte.
Wann war es geschehen? Seit wann sahen alle Mary als alte Jungfer? Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie ein anderes Leben erwartet und ein eigenes Zuhause mit Kindern und einem wunderbaren Mann, den sie liebte, vor sich gesehen hatte.
Wann waren ihre Träume verblaßt, und was hatte deren Verschwinden bewirkt?
War es Florences Heirat gewesen, das Bewußtsein, daß ihre jüngere Schwester sie überholt hatte? Damals hatte Mary geglaubt, das wäre der Grund gewesen. Doch wenn sie nun zurückschaute, wurde ihr klar, daß es schon davor geschehen sein mußte und auch wesentlich unauffälliger. Langsam war sie aus der Mädchenzeit in ihre gegenwärtige Rolle geschlittert.
War es etwas Körperliches? Das mochte Mary nicht glauben. Sie war zwar keine blonde Schönheit wie Eveline, aber dennoch kein unerfreulicher Anblick. Außerdem konnte sie aus ihrer Schulzeit ein Dutzend Mädchen nennen, die sich nicht als Schönheit bezeichnen durften und trotzdem längst verheiratet waren und Kinder großzogen. Was war es also, das die Männer vertrieb?
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