Historical Weihnachtsband 1992
verunsicherte sie noch mehr. Sie sprang auf, goß Tee in eine Tasse und füllte am Herd ein Schüsselchen mit Porridge, hin- und hergerissen zwischen der Verpflichtung, Lord Lindsay zu bewirten, und dem dringenden Wunsch, schnellstens die Flucht zu ergreifen. Sie stellte Tasse und Napf auf den Tisch und holte noch die Zuckerdose. Betont freundlich äußerte sie dabei: „Sie nehmen doch gewiß Zucker."
Der Earl of Lindsay überhörte die Spitze nicht. Schotten pflegten Porridge zu salzen, nur Engländer aßen ihn gesüßt. Unter dem Deckmantel der Höflichkeit gab Miss Duncan ihm zu verstehen, daß er für sie ein Eindringling war. Er lächelte unwilllkürlich. Sie hatte nichts von ihrem hitzigen Temperament eingebüßt.
„Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten?" fragte er und wies auf den Stuhl neben sich.
Die Worte klangen zweideutiger, als Blair lieb war, und auch das verlangende Glitzern in seinem eindringlichen Blick störte sie. Hoffentlich kamen Mrs. Brown und Robbie so bald wie möglich zurück!
„Es wäre nicht sehr höflich, mich allein am Tisch sitzen zu lassen", sagte Lord Lindsay herausfordernd. „Außerdem gibt es keinen Grund, es sei denn, Sie hätten Angst vor mir."
„Es wird nie so weit kommen, daß ich mich vor einem Engländer fürchte!" erwiderte Blair heftig und setzte sich rasch, ehe sie anderen Sinnes würde, Lord Lindsay gegenüber an den Tisch.
„Das freut mich zu hören", äußerte der Earl leicht belustigt und begann, sich schweigend dem einfachen Mahl zu widmen, das sie ihm vorgesetzt hatte. Blair Duncan beobachtete den Earl unter gesenkten Wimpern. Sein beherrschter Gesichtsausdruck verriet ihr mehr als viele Worte. Schließlich wurde ihr die Stille unerträglich, und sie bemerkte irritiert: „Ich habe Sie bewirtet, Lord Lindsay, aber Sie ..."
„Vergessen Sie nicht, daß Sie mich früher Cameron zu nennen pflegten", unterbrach er sie lächelnd.
„Sie haben mir immer noch nicht verraten, was Sie unangemeldet zu mir gebracht hat", fuhr sie unfreundlich fort und legte die Hände um die Teekanne, um nicht zu zeigen, wie sehr sie zitterten.
„Nur der Wunsch, Ihnen zu sagen, daß es meiner Meinung nach für zwei alte Freunde endlich an der Zeit ist, sich gemütlich zu unterhalten. Es kann Ihnen nicht entgangen sein, daß ich erst jetzt Gelegenheit zu einem Gespräch mit Ihnen habe, seit ich nach Glenmuir gekommen bin." Gemächlich schob Lord Lindsay die Schüssel zur Seite. „Ich bin fest entschlossen, Sie von jetzt an öfter zu besuchen, und möchte Sie zu einem kleinen Empfang bitten, den ich bald geben werde. Da meine Einladungen in den vergangenen drei Jahren unbeantwortet geblieben sind, wollte ich diese persönlich überbringen."
Blair errötete heftig, doch nicht aus Scham, weil sie seine Bemühungen, die Kinderfreundschaft zu erneuern, bisher
mißachtet hatte. Nein, sie war zornig, weil sie an die unbeantwortet gebliebenen, schwärmerischen Briefe dachte, die sie ihm nach der Abreise nach England geschrieben hatte. Doch das würde sie ihm niemals eingestehen. Er sollte nicht wissen, wie sehr sein zwölf Jahre währendes Schweigen sie verletzt hatte. Aber das war Vergangenheit. Wie alle, die in Glenmuir lebten, hatte Blair genug damit zu tun, sich um die Zukunft Sorgen zu machen, und in ihrem zukünftigen Leben gab es keinen Platz für den Earl of Lindsay. „Leider werde ich keine Zeit haben", sagte sie endlich.
„Keine Zeit? Sie kennen nicht einmal das Datum!" widersprach er.
„Richtig, aber vor den Festtagen finde ich für gesellschaftliche Anlässe wirklich keine Muße", verteidigte sie sich und stand hastig auf, um den Tisch abzuräumen. Nun mußte der ungebetene Besucher endlich begreifen, daß Gespräch und Frühstück beendet waren und er sich zu verabschieden hatte.
„Gewiß werden Sie am Heiligen Abend den Gottesdienst besuchen," wandte Lord Lindsay beharrlich ein, während sie das Geschirr zum Spülstein trug. „Wenn eine Teilnahme an meiner kleinen Soirée nicht in Frage kommt, gestatten Sie mir wenigstens, Sie zur Kirche zu begleiten. Danach könnten wir beide zwanglos in Lindsay Hall dinieren. Denn bis dahin, das müssen Sie zugeben, wird ihre Arbeit im Dienste der Nächstenliebe getan sein. Wenn nicht, werde ich Ihnen gern dabei helfen".
„Ich gebe überhaupt nichts zu", sagte Miss Duncan und hob unwillkürlich die Stimme. Ihr Redlichkeitssinn geriet durch Lord Lindsays starke männliche Ausstrahlung ins Wanken, und das verstärkte ihre
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