Blutgold
Prolog
Montag, 9. Oktober
Als
ich Leon Bradley das letzte Mal mit einer Pistole in der Hand sah, stand er in
unserem Garten. Da war er erst fünf Jahre alt und nicht einmal einen Meter
zwanzig groß, trug einen Cowboyhut, den er aus der Stirn geschoben hatte, und
die Haare – Strähnen fein gesponnenen Goldes – hingen ihm in die Augen. Mein
kleiner Bruder Tom, der den Indianer spielte, hatte sich in unseren Schuppen
geflüchtet, schärfte sein Plastikmesser und machte sich bereit zum Skalpieren.
Leon hatte
den Revolver auf mich gerichtet und ein Auge zugekniffen, die Zungenspitze
lugte zwischen seinen Lippen hervor, so konzentriert war er. Immer wieder
schüttelte er den Kopf, weil der Pony ihm ins Auge hing. »Hände hoch, Tonto«,
rief er.
Kapitulierend hob ich die Hände, während ich mich unauffällig durch die
Einfahrt entfernte. Mein Freund – Leons älterer Bruder Fearghal – wartete auf
der Straße in seinem Ford Fiesta und ließ den Motor aufheulen.
»Peng, peng!«, hörte ich Leon rufen, gerade als ich die Autotür
zuknallte. Wir brausten davon. Im Rückspiegel sah ich noch, wie Leon mit der
Smith & Wesson aus Plastik in der kleinen Faust den Rückstoß des Schusses
mimte.
Aber das hier war anders. Leon musste nun Ende zwanzig sein. Seine
Haare waren dunkler geworden oder braun gefärbt und hingen ihm in ungewaschenen
Zotteln in den Nacken. Sein Gesicht jedoch war auch diesmal ein Bild völliger
Konzentration, während er die Pistole mit ruhiger Hand hielt. Auch jetzt hatte
er ein Auge zugekniffen, und sein Mund war eine schmale blasse Linie. Ich
folgte seinem Blick, folgte der Zielrichtung seiner Waffe zu US- Senator
Cathal Hagan, der mit angststarrer Miene dastand.
Mit erhobener Hand drängte ich mich durch die Menge auf ihn zu, ein
Warnschrei blieb mir in der Kehle stecken. Dann hörte ich den Schuss und sah
die Mündung der Waffe aufblitzen. Im selben Augenblick warfen zwei ehemalige
Agenten des amerikanischen Secret Service Leon zu Boden – zu spät, um die
Unzulänglichkeit der irischen Polizei An Garda Síochána wettzumachen. Die
Pistole wurde Leon aus der Hand geschlagen und fiel zu Boden, wo sie im
herbstlichen Sonnenlicht glitzerte, das durch die Fenster hereinschien.
1
Freitag, 29. September
»Sie
haben draußen in der neuen Mine jemanden entdeckt.«
Es dauerte
einige Sekunden, bis ich begriff, dass ich gemeint war. Ich blickte vom
Schreibtisch hoch. Vor mir ragte Superintendent Harry Patterson auf.
»Wie bitte?«
»Sie haben draußen in der Mine jemanden ausgegraben«, sagte er gereizt.
»Wir fahren da raus. Es handelt sich um eine Leiche«, erklärte er und wandte
sich bereits zum Gehen.
»Das ist meistens so, wenn man jemanden ausgraben muss«, murmelte ich.
»Und Ihre Klugscheißerkommentare können Sie sich sparen!«, fuhr er mich
an. »Jetzt kommen Sie in die Gänge!«
Die
Blätter begannen erst sich zu verfärben, und als ich an diesem Morgen zur
Arbeit gefahren war, war an den gewaltigen Eichen hinter unserem Haus immer
noch ein wenig Grün zu sehen gewesen; die Kirschbäume hingegen waren bereits
vorwiegend golden, ihre Blätter krümmten sich allmählich und hingen schlaff herab.
Die Luft war noch immer würzig und warm, doch der Tanningeruch des Herbstes
wurde stärker.
Schon der
Umstand, dass Patterson selbst zum Tatort fuhr, ließ erkennen, welche
Dringlichkeit dem Fall beigemessen wurde. Nicht so sehr dem Fund selbst,
sondern dem Fund ort : Orcas, eine neue Goldmine,
die zwei Jahre zuvor in der Nähe von Barnes Gap, zwischen Ballybofey und der
Stadt Donegal, eröffnet worden war – errichtet auf dem Versprechen
unermesslichen Reichtums, an dem irgendwann in der Zukunft die gesamte Bevölkerung
teilhaben sollte. Die Leiche, erklärte Patterson mir unterwegs im Auto, war von
Arbeitern beim Graben in einem neuen Minenabschnitt gefunden worden. Der
Eigentümer, John Weston, hatte Patterson höchstpersönlich herbeizitiert.
Weston war ein Amerikaner irischer Abstammung in der zweiten
Generation. Seine Familie war nach dem Tod seines Vaters zurück in »die alte
Heimat« gezogen. Bill Weston, Johns Vater, war in den USA Senator und überdies außerordentlich reich gewesen. John hatte jeden Cent geerbt
und in Irland mit Unterstützung von Freunden seines Vaters eine Reihe von
geschäftlichen Projekten ins Leben gerufen. Die Orcas-Goldmine war das größte
und, wie es schien, erfolgreichste.
Zwanzig Minuten später bog Patterson auf eine schmale Nebenstraße
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