Historical Weihnachtsband 2010
hier sie unter einem derben Gewand und einem Schleier. Und sie gab sich obendrein auch noch eher bescheiden.
„Du bist doch ihr Herr, Orrick. Weißt du etwa nicht, wie sie sich ihren Lebensunterhalt verdient?“
Orrick brummte nur und nahm einen Schluck aus seinem Becher. Gavin beobachtete die Frau einige Zeit, während sie an den unteren Tischen bediente. Sie zeigte ein liebenswürdiges Lächeln und sprach leise mit all jenen, denen sie Bier einschenkte. In ihrem Benehmen den Männern gegenüber lag nichts Aufreizendes, und keine der Frauen an den Tischen antwortete mit Feindseligkeit auf ihr Betragen. Orrick führte seinen Besitz und seine Ländereien in der Tat auf ganz andere Art und Weise als die meisten der englischen Lords.
„Ich weiß, wie sie sich ihren Lebensunterhalt verdient, Bruder. Ich weiß aber nicht, wie es dazu kam, dass sie ihn sich auf diese Weise verdienen muss.“
Orricks Worte verblüfften Gavin. Orrick hatte seine ganz eigene Methode, mit der es ihm immer gelang, die Wahrheit herauszufinden. Trotzdem hatte diese Frau es geschafft, ihre Vergangenheit vor ihm zu verbergen. Das war erstaunlich. Und sehr interessant. Zum ersten Mal seit langer Zeit regte sich wieder etwas in Gavin.
Es war die Neugier.
Er ließ sich tiefer in den hochlehnigen Sessel zurücksinken und sah sich die Frau genauer an. Er schätzte sie auf ungefähr fünfundzwanzig Jahre. Anscheinend besaß sie noch alle Zähne. Gavin konnte es sehen, wenn sie lächelte. Und er sah auch, dass keine Pockennarben oder sonstigen Schönheitsfehler ihre Haut entstellten. Aufrecht und mit geradem Rücken stand sie da. Ihr Körper ließ keine Missbildungen erkennen. Das hier war keine der üblichen Dorfhuren.
„Spielt es überhaupt eine Rolle, warum sie es tut, Orrick? Macht sie dir irgendwelchen Ärger?“
Orrick beugte sich näher zu ihm, damit keiner seine Worte hören konnte. Besonders seine Frau Margaret nicht, die auf seiner anderen Seite saß. „Ich mag keine offenen Fragen. Wer weiß, was für Übel sie über uns bringen kann, falls jemand sie hier bei uns sucht?“
Gavin fühlte sich wie eine Marionette, an deren Schnüren man zog. Er erkannte sehr wohl das listige Spiel seines Pflegebruders und beschloss, es ihm gleichzutun. Was sein Bruder konnte, konnte er schon lange.
„Dann wirf sie doch hinaus. Als Herr über diesen Besitz hast du schließlich das Recht dazu.“
Die Art, wie Orrick das Gesicht verzog, und auch sein finsterer Blick verrieten Gavin die Wahrheit. Die Frau hatte Orricks Interesse geweckt, er wollte ihre Geschichte kennenlernen. Doch niemals würde er eine hilflose, arme Seele, die keine andere Zuflucht besaß, von seinen Ländereien vertreiben. Ganz besonders nicht so kurz vor dem Fest der Geburt unseres Herrn und den Neujahrsfeierlichkeiten. Es war eine alte Schwäche von ihm. Orrick saß in der Klemme, und darüber musste Gavin lachen.
„Du täuschst dich in mir. Und du versuchst vergebens, mich zu manipulieren. Aber ich habe Mitleid mit dir und der Zwickmühle, in der du steckst. Ich werde dir trotzdem die gewünschten Informationen über deine Dorfhure bringen.“ Während er sprach, deutete er mit dem Kopf zu der Frau hinüber. Und dabei wäre ihm beinahe der schmerzliche Ausdruck entgangen, der über Orricks Gesicht huschte. Beinahe.
Ob der Burgherr wohl ein persönliches Interesse an der Frau hatte? Gavin glaubte es eigentlich nicht. Aber wie sonst war sein Benehmen zu erklären? Gavin reckte den Hals, um zu sehen, ob Margaret ihnen ihre Aufmerksamkeit schenkte. Er sah, dass sie in ein angeregtes Gespräch mit der Frau neben ihr vertieft war. Jetzt war die beste Gelegenheit, seine Frage zu stellen.
„Möchtest du sie gern zu deiner Bettgenossin machen? Ist es das, was hinter alledem steckt?“
„Bettgenossin?“, fragte Orrick und verschluckte sich beinahe an dem Wort.
„Aye. Wenn du sie als Bettgenossin haben willst, kann ich herausfinden, ob sie verheiratet ist oder ob es sonst irgendein Hindernis für dich gibt.“
So ungewöhnlich war ein solches Ansinnen unter Adligen gar nicht. Aber Gavin hatte das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Er hätte nie geglaubt, dass Orrick sich eine andere Frau ins Bett holen würde, solange er mit Margaret vermählt war. Wenn sich die Dinge zwischen den beiden so verändert hatten, dann war zwischen Gavins Besuchen zu viel Zeit verstrichen.
„Ich will keine andere Frau als meine Margaret, du dickschädeliger Esel“, flüsterte Orrick ihm
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