Hitlers Berlin
den Deutschnationalen anbiedert.« In der NSDAP herrsche darüber eine »grenzenlose Empörung«, behauptete Goebbels nachträglich – eine klare Manipulation, denn Ende Oktober sahen nennenswerte Teile der braunen Bewegung in Strassers Initiative eine Verheißung. Vielfach bröckelte der Glaube an Hitlers Chance, die vollständige Macht zu ertrotzen. 41
In dieser Situation griff Goebbels zu einem Mittel, das die NSDAP bisher bewusst verschmäht hatte: Sie ging eine Art Bündnis mit der KPD ein und unterstützte den »wilden Streik« bei der Berliner Verkehrs-Gesellschaft (BVG). Eigentlich ging es dabei um eine eher geringe Lohnkürzung von zwei Pfennigen pro Stunde. Die Gewerkschaften lehnten einen Streik angesichts Erfolg versprechender Verhandlungen mit der BVGGeschäftsführung ab, doch verfügten sie nicht mehr über den entscheidenden Einfluss. Am 2. November 1932 riefen die KPD, die rund ein Drittel des BVG-Betriebsrates beherrschte, und die NSDAP gemeinsam zum Streik auf – der angesichts der geltenden Notverordnungen des Reichspräsidenten rechtswidrig war. Am 3. November standen praktisch alle städtischen Verkehrsmittel still; nur die S-Bahn, betrieben von der Reichsbahn, fuhr. In den folgenden Tagen wurden die Schienen der Straßenbahnen blockiert und in von Streikbrechern gelenkten Zügen die Scheiben eingeworfen. Die Polizei nahm Streikposten fest, die BVG entließ nach zwei Tagen 1000 streikende Arbeiter. Der Streik legte nicht nur das öffentliche Leben zum Teil still, er nahm auch an Militanz zu, und das unmittelbar vor der zweiten Reichstagswahl des Jahres 1932 am 6. November. Mindestens drei Menschen wurden bei Auseinandersetzungen erschossen, Dutzende schwer verletzt. Bei Goebbels waren, ein letztes Mal, »linke« Instinkte erkennbar: »Hätten wir nicht so gehandelt, dann wären wir keine sozialistische und keine Arbeiterpartei mehr.« Auch wenn die nationalsozialistische Presse im Einklang mit kommunistischen Blättern den Streik beschwor, begann er sich am Sonnabend vor der Wahl aufzulösen. Die Verluste der Hitler-Bewegung bei der Abstimmung in Berlin und im ganzen Reich waren einerseits eine Folge des Streiks, andererseits beeinflussten sie den Ausstand: Am Montag, dem
7. November, zog sich die NSDAP aus der Streikleitung zurück; Goebbels registrierte eine »sehr gedämpfte Stimmung« in seiner Geschäftsstelle, was gewiss übertrieben freundlich ausgedrückt war. Tatsächlich stand die Hitler-Bewegung vor einem Scherbenhaufen. Zwar war sie immer noch die stärkste Partei im Reich, doch »das Zusammengehen von Kommunisten und Nazis (…) strahlte in der bürgerlich-konservativen Öffentlichkeit eine Signalwirkung aus. Hier wurden bürgerliche Urängste berührt«, fasst der Historiker Henning Köhler zusammen. 42 Welche Rolle Hitler beim Berliner Verkehrsstreik gespielt hat, ist unklar; am 2. November 1932 war er in Berlin und hielt vor angeblich 40 000 Zuhörern im Sportpalast eine große Rede. Allerdings machte er offenbar keine gute Figur; die Vo ssische Zeitung berichtete, Hitler sei »in diesem Augenblick ein fast ausgepumpter Mann. Seine naturgemäß überanstrengte und heisere Stimme hat (…) viel von der früheren Zauberkraft verloren, und der Beifall unterbricht seine Sätze nicht mehr so oft und so tosend wie früher.« Goebbels erregte sich zwei Tage später über das Gerücht, er allein habe die Zusammenarbeit mit den Kommunisten inszeniert: »Die bürgerliche Presse hat die Lüge erfunden, daß ich diesen Streik ohne Wissen und Willen des Führers vom Zaune gebrochen habe, um die Partei in bolschewistisches Fahrwasser hinüberzuleiten.« Tatsächlich aber bekannte sich Hitler am 4. November bei einem Auftritt in Ulm zum Berliner Streik; laut Ulmer Tagblatt sagte er: »Die heutigen Machthaber sollen es einmal den Arbeitern vormachen, wie man mit 70 – 90 Reichsmark im Monat leben kann.« Doch mit dieser Polemik kam Hitler nicht mehr an; wenig überraschend beim Vorsitzenden einer »Arbeiterpartei«, der regelmäßig in einem der teuersten Hotels der Hauptstadt logierte. 43
Nach der doppelten Niederlage bei der Reichstagswahl und beim Berliner Verkehrsstreik sah Gregor Strasser seine Stunde gekommen. Der Reichsorganisationsleiter handelte mit dem Drahtzieher der Regierung, Reichswehrminister Schleicher, einen Kompromiss aus, der sowohl die NSDAP in Regierungsverantwortung bringen als auch Hitler das Gesicht wahren lassen sollte. Zunächst ging der Parteichef,
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