HMJ06 - Das Ritual
hätten wir.« Jack schaute sich um. »Vielleicht wartet noch ein Zweiter auf uns. Vielleicht auch nicht.«
Lyle hoffte, dass dies nicht der Fall wäre. Knapp dreißig Sekunden waren verstrichen, seit das Telefon geklingelt hatte, aber er wusste, dass er in dieser kurzen Zeitspanne den Sprung vom mehr oder weniger harmlosen Bauernfänger zum Schwer- oder Gewohnheitsverbrecher vollzogen hatte. Er war für wüste Keilereien, für Schusswaffen und Gewalt nicht geschaffen. So etwas verwandelte ihn in ein zitterndes Nervenbündel.
Jack deutete mit der Pistole auf Bellitto. »Helfen Sie mir, ihn hochzuhieven.«
Sie packten den gefesselten Mann unter den Armen und wuchteten ihn in einen weichen cremefarbenen Sessel. Bellitto krümmte sich vor Schmerzen, doch Jack schien das gleichgültig zu sein.
Lyle holte seine Schuhe aus dem Sportsack und schlüpfte hinein. Soweit er es beurteilen konnte, bestand für ein möglichst lautloses Auftreten keine Notwendigkeit mehr, und außerdem wäre es ein gutes Gefühl, mehr als nur Socken an den Füßen zu haben.
»Ist sonst noch jemand hier, Eli?«
Als Bellitto nicht reagierte, bückte sich Jack zu ihm hinunter, packte sein Haar und zog seinen Kopf hoch, so dass er ihm in die Augen schauen konnte.
»Wo ist Ihr Kumpel Minkin? Treibt er sich in der Nähe rum? Sie können nicken oder den Kopf schütteln, Eli. Sofort!«
Bellitto schüttelte den Kopf.
»Erwarten Sie ihn oder jemanden anderen in allernächster Zeit?«
Ein neuerliches Kopfschütteln.
Jack stieß ihn zurück. »Okay. Ich will Ihnen mal glauben.« Er wandte sich an Lyle. »Zücken Sie Ihren Totschläger und halten Sie sich in seiner Nähe. Wenn er aufstehen will, schicken Sie ihn auf die Bretter.«
Lyle wollte mit dem Mann nicht allein zurückbleiben. »Wo gehen Sie hin?«
»Ich schaue mal in den anderen Zimmern nach. Nur um auf Nummer Sicher zu gehen. Ich habe das ungute Gefühl, dass Minkin sich irgendwo, vielleicht in der Etage über uns, versteckt. Ich möchte ihn nur ungern zurücklassen, sollte er hier sein. Und während ich schon mal dabei bin, kann ich auch gleich nachschauen, ob ich etwas finde, um dieses Stück Müll sicher zu verpacken.« Er ließ den Blick durch das kahle Wohnzimmer wandern. »Mein Gott, Eli, haben Sie schon mal was von einem Teppich gehört?«
Während Jack sich mit der Pistole im Anschlag entfernte, zog Lyle den Totschläger aus der Tasche und suchte sich eine Position hinter Bellitto, wo er nicht ständig in seine kalten Augen blicken musste. Er war froh, dass der Mund des Mannes zugeklebt war und er nicht reden oder um Gnade winseln konnte. Ahnte er vielleicht, dass dies die letzte Nacht war, die er unter den Lebenden verbringen würde?
Plötzlich vernahm Lyle einen heiseren Schrei – es war Jacks Stimme – vom anderen Ende des Hauses.
Oh, Scheiße, was nun?
Er krampfte die verschwitzte Hand um den Griff des Totschlägers, während sich sein Herzschlag mindestens auf das Dreifache beschleunigte. Verdammt noch mal, er hätte die Pistole nehmen sollen, als Jack sie ihm angeboten hatte.
Und dann kam Jack regelrecht ins Zimmer geflogen, das Gesicht schneeweiß, die Zähne gefletscht, in der einen Hand die Pistole, in der anderen ein Bogen Papier.
Lyle erschrak, als er den Ausdruck seiner Augen gewahrte. Er hätte niemals erwartet, dass ein Mensch so aussehen konnte – wie der personifizierte Tod.
Er tat einen hastigen Schritt rückwärts, während Jack Bellitto mit der Pistole eins über den Schädel verpasste und ihm das Stück Papier unter die Nase hielt.
»Was ist das? Wer hat das geschickt?« Er ließ das Blatt Papier in Bellittos Schoß fallen und riss das Klebeband von seinem Mund ab. Dann senkte er die Pistole, bis die Mündung auf ein Bein des Mannes zielte. »Reden Sie endlich, Bellitto, oder ich schieße Ihre Knie zu Brei, und zwar eins nach dem anderen, bis ich alles weiß, was Sie mir zu erzählen haben.«
13
»So gerne ich Jack hier sehen würde«, sagte Charlie, »so hoffe ich doch, dass er nicht ausgerechnet in diesem Augenblick hereinplatzt. Ich glaube, dies hier wäre ein wenig schwierig zu erklären.«
Gia lachte. »Ich würde es gar nicht erst versuchen. Eher würde ich ihm den Kopf waschen, weshalb er so lange gebraucht hat herzukommen.«
Gias Fuß steckte in einer Art Stufe etwa ein Meter zwanzig über dem Boden ihres Gefängnisses, und ihr Arm schmerzte von der ungewohnten Anstrengung, während sie ein weiteres Loch über ihrem Kopf in die
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