HMJ06 - Das Ritual
Pistole mit schwarzem matt glänzendem Finish heraus. Lyle hatte nicht viel Ahnung von Waffen, aber eine Halbautomatik erkannte er auf den ersten Blick und schätzte sie auf Kaliber 9 mm. Und er wusste, dass der dicke Zylinder am Ende des Laufs ein Schalldämpfer war.
Der Anblick und die lässige Art und Weise, mit der Jack mit der Waffe herumhantierte, lösten bei ihm eine leichte Übelkeit aus.
Zu Hause hatte das Ganze noch wie ein einfacher, effizienter Plan ausgesehen: der Austausch von Taras Mörder gegen Charlie und Gia. Doch je weiter sie die unwirkliche Atmosphäre des Menelaus Manor hinter sich ließen und in die harte Wirklichkeit Manhattans eintauchten, die das Gefühl von Sicherheit vermittelte, desto irrsinniger erschien die Idee, einen Kindermörder, einen mutmaßlichen Kindermörder – sie hatten ja keinen richtigen Beweis für seine Tat – aus seiner eigenen Wohnung zu entführen.
Und jetzt … eine Schusswaffe.
Lyle schluckte. »Sie haben doch nicht etwa vor, das Ding zu benutzen, oder?«
Jacks Stimme war ausdruckslos. »Ich benutze, was ich benutzen muss. Als Toter hat er keinen Wert für uns, daher will ich ihn lebend, wenn es das ist, weshalb Sie sich Sorgen machen. Aber ich werde tun, was nötig ist, um ihn in meine Gewalt zu bekommen.« Seine kalten, dunklen Augen, die an diesem Morgen in einem milden Braun erschienen waren, fixierten Lyle skeptisch. »Vielleicht sollten Sie lieber hier warten.«
»Nein.« Schließlich war Charlie in dem Haus gefangen. Sein Bruder. Sein Fleisch und Blut. Lyle würde Jack tatkräftig helfen und sich erst später den Kopf über Moral und Gesetz zerbrechen. »Ich bin bis hierher mitgekommen. Jetzt gehe ich auch den ganzen Weg.«
Jack nickte knapp. »Wollen Sie die Glock?«
Glock? Ach so, die Pistole.
»Lieber nicht.«
»Nun, auf keinen Fall wagen Sie sich mit leeren Händen in die Höhle des Löwen.«
Er griff wieder in seinen Sportsack und holte einen Gegenstand heraus, den Lyle sofort erkannte: Es war ein mit schwarzem Leder bezogener Totschläger.
»Fühlen Sie sich damit wohler?«
Lyle konnte nur mit dem Kopf nicken. Er fühlte sich ganz und gar nicht wohl und bezweifelte, dass er mit dem schweren Ding jemanden auf den Schädel schlagen könnte, ganz gleich, wer der Betreffende war. Doch er nahm die Waffe an sich und verstaute sie in der Hosentasche.
Als Nächstes holte Jack eine Rolle Klebeband aus dem Sack und riss verschieden lange Streifen ab. Diese klebte er sich vorne auf ein T-Shirt.
Dann waren sie bereit. Jack zog den Schlitten der Pistole nach hinten, ergriff den Sportsack und stieg schon die Treppe hinunter.
»Hey, warten Sie«, flüsterte Lyle, als ihm etwas auffiel. »Sollten wir uns nicht lieber maskieren? Sie wissen, ein Damenstrumpf über den Kopf ziehen oder so etwas.«
»Warum?«
Der Grund war so offensichtlich, dass es ihn zutiefst überraschte, dass Jack nicht daran gedacht hatte. Dabei schien er alles andere berücksichtigt zu haben.
»Damit dieser Kerl unsere Gesichter nicht sieht.«
»Warum sollten wir uns deshalb Sorgen machen?«
»Zum Beispiel, wenn Tara zu dem Tauschhandel nicht bereit ist. Dann haben wir einen Kerl am Bein, den wir entführt haben und der weiß, wie wir aussehen. Er kann zur Polizei gehen und …«
»Er wird nicht zur Polizei gehen.«
»Warum nicht? Weil er ein Kindermörder ist und mehr als wir zu verbergen hat? Schon möglich. Aber wir bringen ihn in mein Haus, nicht in Ihres. Er weiß dann, wo ich wohne, und nicht …«
»Es ist völlig egal, was er weiß.«
»Mir ist es nicht egal, verdammt noch mal.«
Jack sah ihn an. Seine Augen waren kälter und düsterer als je zuvor und sprachen eine unmissverständliche Sprache. »Es … ist … egal.«
Die volle Bedeutung dieser Worte traf Lyle wie ein führerlos dahinrasender D-Zug.
»Hey, Moment mal. Jack, ich möchte nicht beteiligt sein, wenn Sie …«
Jack wandte sich ab. »Das werden Sie auch nicht, das ist nicht Ihr Problem. Kommen Sie endlich. Schnappen wir uns dieses Monster.«
Jack schlich die Treppe hinunter. Lyle blieb zurück, vorwiegend gebremst durch den schweren Bleiklumpen, in den sein Magen sich verwandelt zu haben schien. Aber der Gedanke an Charlie trieb ihn an, sich zu beeilen.
Am Ende der Treppe gelangten sie in einen dunklen Korridor, von dem eine Reihe Türen abgingen, die alle geschlossen waren. Kein Lichtschein drang durch einen Türspalt heraus. Hier war es merklich kühler. Das war eindeutig der Klimaanlage zu
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