HMJ06 - Das Ritual
bestimmt.
In seiner Leiche steckte noch zu viel von dem guten Menschen, der er gewesen war, um Taras Forderung nachzukommen.
Tara drehte sich zu Gia um. Ihre Augen funkelten. »Das ist so unfair!«
»Du redest von fair? Was ist fair daran, dass du mein Baby haben willst?«
Ihr Gesicht verzerrte sich. Gleich würde sie anfangen zu weinen. »Weil du alles hast und ich nichts!«
Gia empfand einen Anflug von Mitleid. Ja, sie hatte alles, oder fast alles, was sie sich vom Leben wünschte, Dinge, die Tara niemals hatte und die sie auch niemals haben würde. Aber das hieß noch lange nicht, dass Tara ein Anrecht auf das neue Leben hatte, das in ihrem Leib heranwuchs.
»Es tut mir Leid, Tara. Wirklich und wahrhaftig Leid. Und wenn ich ungeschehen machen könnte, was dir angetan wurde, dann würde ich es ganz gewiss tun. Aber das liegt nicht in meiner Macht.«
»Das Baby«, sagte Tara. »Gib mir nur das Baby, und du kannst gehen.«
»Nein.« Gia drückte sich wieder gegen die Wand und hob das Kreuz, so dass es sich zwischen ihnen befand.
»Ich soll zulassen, dass du mein Baby tötest? Du verlangst etwas Unmögliches. Das werde ich nicht tun. Ich kann es nicht. Niemals.«
Tara sah sie einen Moment lang stumm an, dann wich sie zurück. Sie verschwand kurz und erschien erneut in der Mitte des Kellers. Auch jetzt sagte sie nichts, sondern musterte Gia nur von weitem.
Gia senkte das Kreuz und blickte verstohlen zur Kellertreppe. War sie immer noch durch die unsichtbare Wand versperrt? Sollte sie versuchen …?
Dann spürte sie, wie etwas Kaltes sich um ihren rechten Unterarm schlang – den Arm, der das Kreuz festhielt. Eine der Geisterhände hatte sie mit eisernem Griff gepackt. Sie wollte den anderen Arm ausstrecken, um das Kreuz mit der anderen Hand zu ergreifen, doch er wurde festgehalten, ehe sie ihn rühren konnte.
Und nun stand Tara direkt vor ihr und grinste sie spöttisch an. »Ich weiß gar nicht, warum mir das nicht schon früher eingefallen ist. So ist es viel einfacher.«
Gia schrie auf und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Sie drehte das Kreuz, um die Geisterhand damit zu berühren, die ihren rechten Arm gepackt hatte, doch ihr Handgelenk ließ sich nicht weit genug nach hinten biegen.
»Beruhige dich«, säuselte Tara nun besänftigend, während sie näher kam. »Halte still. Es tut nicht weh. Du wirst nicht das Geringste spüren, das verspreche ich dir.«
Zwei weitere Geisterarme legten sich um Gias Beine und fesselten sie.
»Tara, nein! Bitte! Tu das nicht!«
Tara sagte nichts. Ihre Augen leuchteten, und sie wirkte wie entrückt, während sie die rechte Hand nach Gias Leib ausstreckte.
Gefesselt, zur Bewegungslosigkeit verurteilt, verkrampfte sich Gia vor Grauen, während die Fingerspitzen des kleinen Mädchens durch den Hosenbund ihrer Jeans drangen. Sie schrie auf, als ein Impuls eisiger Kälte durch ihren Leib schnitt, während die Finger in ihre Haut eindrangen.
»Nur ein kleines Stück«, flüsterte Tara. »Ein winziger Druck, nicht mehr als ein harmloser Stich, und alles ist …«
Sie hielt inne und legte den Kopf schief, als lauschte sie. Sie machte einen Schritt zurück, zog die Hand weg, lauschte immer noch.
»Ja«, flüsterte das Mädchen dann und nickte, während ihr Mund sich zum Anflug eines Lächelns verzog.
Gia konnte nicht hören, wer sich mit Tara verständigte, aber sie wusste, dass es eigentlich nur eine Person sein konnte.
Jack.
Sie schluchzte auf und sank auf die Knie, während die Geisterhände sie freigaben.
»O ja!«, rief Tara.
Gia blickte hoch und erschauerte, als sie das absolute Böse in dem hässlichen Grinsen erkannte, das Taras Kindergesicht zu einer Fratze entstellte.
18
»Hörst du mich, Tara?«, rief Lyle vor der geschlossenen Tür. »Ein Tausch! Dein Mörder gegen Gia und Charlie!«
Es kann nicht zu spät sein, dachte Jack und wehrte sich dagegen, das Undenkbare zu denken, während er verzweifelt auf ein Zeichen Taras wartete, dass sie zu dem Tauschhandel bereit war. Es darf nicht zu spät sein!
Wenn seine Stimme dazu in der Lage gewesen wäre, hätte er brüllen und mit Tara verhandeln können.
Er und Lyle standen in der Garage und stützten Bellitto zwischen ihnen, so dass er halbwegs aufrecht stand. Sie hatten den Crown Vic rückwärts in die Garage gesetzt, hatten die Garagentore geschlossen und den Mann aus dem Kofferraum gehievt. Jack hatte seine Füße befreit, die Hände jedoch gefesselt und den Mund zugeklebt gelassen.
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