Hochsaison. Alpenkrimi
setzte exakt rechts neben dem Brustbein, zwischen der dritten und vierten Rippe auf und zerriss dort das Kleid. Nicole schrie entsetzt auf. Dann rutschte es mit einem hässlichen, schleifenden Geräusch nach unten, knirschend schlidderte die Messerspitze über Nicoles Bauch – nicht, weil Wong schlecht gezielt hätte, sondern weil die Schutzweste aus Aramidfasern dem Ka-to keine Chance gab, auch nur einen Millimeter einzudringen. Wong brauchte eine Zehntelsekunde, um zu begreifen, was da geschehen war. Das Gnadgott war abgerutscht. Nicole sah an sich hinunter, nur das Kleid war zerrissen, sie war unverletzt. Bevor sie auch nur ansatzweise die Waffe ziehen konnte, spürte sie einen scharfen Schmerz an ihrem Unterarm. Das war ihre Pistolenhand gewesen, sie brannte jetzt wie Feuer und war unbrauchbar geworden. Ein tiefer Schnitt zeigte sich über ihrem Handgelenk. Es verging eine weitere Sekunde, bis sie begriff, dass der Angreifer geflohen war. Sie riss ihre Pistole mit der anderen Hand aus dem Holster und nahm die Verfolgung auf.
Die Gesänge des Voralpenchors schwollen an –
♫ Mir fahrn mit ’m Viechwagn in d’ Höll!
– hieß es da, Wong hatte zwanzig
Meter Vorsprung. Es wimmelte hier von Sicherheitskräften, es war nur noch eine Frage der Zeit, wann die Polizistin Hilfe holen würde und sich die internationalen Top Ten der Personenschützer einen Spaß daraus machten, ihn wie einen Hasen zu jagen. Er spurtete im Zickzack durch die Gräber, in die Richtung, in der der Friedhof an eine unübersichtliche Waldung grenzte. Nach einiger Zeit blickte er sich um, Verfolger konnte er nicht ausmachen. Er verstaute sein Gnadgott und ging langsam, fast schlendernd weiter. Das Kabel, das das Mikrophon der Kommissarin mit dem Sender verband, hatte er mit dem Rapier zerrissen. Das war gerade noch einmal gutgegangen.
Nicole rannte, was das Zeug hielt. Vor einigen Wochen beim Schießtraining hatte man ihr Tennisbälle von allen Richtungen an den Kopf geworfen, während sie auf fünf verschiedene bewegliche Ziele schießen und auch noch darauf achten musste, ob es die Guten oder die Bösen waren, die sie da beschoss. Sie würde doch jetzt wohl einen einzelnen Flüchtigen fassen und stellen können! Er konnte noch nicht weit gekommen sein, sie vermutete, dass er sich durch die Bewaldung des Kramerplateaus schlagen wollte. Ein zweites Mal würde sie sich nicht übertölpeln lassen. Sie überholte ein langsam dahinwackelndes Paar, einen wohlbeleibten Mann und eine Frau, die die Hand am Ohr hielt. Das war das schwerhörige Paar von vorhin, das den Pfarrer so amüsiert hatte. Zu langwierig, dieses Pärchen zu fragen, ob sie einen Flüchtigen gesehen hatten. Nicole rannte weiter und vertraute ihrem Instinkt. Sie kam in ein Areal des Friedhofs, das menschenleer war.
Ein frisch ausgehobenes Grab, ein Erdloch für eine Bestattung am Nachmittag. Wong schaute hinab in die Tiefe, drei Meter waren das schon. Neben dem offenen Grab lag eine große Holzplatte, auf der die ausgehobene Erde aufgehäuft war.
Wong kniete sich hinter dem Grabstein nieder. Diese Polizistin konnte keine Verstärkung über Funk rufen, dafür hatte er gesorgt, ihre Kollegen hatten vermutlich, eingepfercht im zähflüssigen Gemenge der Trauergäste, nichts von seinem Angriff mitbekommen. Er sah, wie sie sich anpirschte, allein, mit gezogener Pistole, nach links und rechts hinter jeden Grabstein blickend. Sie kam näher.
Der erste Schlag riss ihr die Pistole aus der Hand. Der zweite Schlag traf sie in die Kniekehlen, es war ein gezielter Tritt mit dem Fuß. Nicole strauchelte, versuchte sich zu fangen, doch Wong riss sie nieder auf den harten Kies. Er fasste sie an den Beinen, sie strampelte, versuchte ihn abzuschütteln. Die schwere Schutzweste behinderte sie, die verletzte Hand tat höllisch weh. Wong zerrte sie zum offenen Grab, ließ sie kopfüber in die Grube fallen. Bevor sie sich aufrappeln konnte, spürte sie schon Erde auf sich rieseln.
Wong hob das Brett auf einer Seite in die Höhe, bis der schwere, lehmige Humus vollständig in die Grube gerutscht war. Dann nahm er Nicoles Pistole auf und steckte sie ein. Er wollte endlich verschwinden. Doch er musste sich abermals hinter dem Grabstein verstecken, denn zwei Friedhofsbesucher kamen den Kiesweg entlanggeknirscht.
»Na, aber da schau her«, sagte der wohlbeleibte Mann zu der schwerhörigen Frau, und beide blieben an Nicoles Grab stehen. »Den alten Fetzer Egon haben sie anscheinend schon
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