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Hochsaison. Alpenkrimi

Titel: Hochsaison. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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beschriftet. Dieser Mann war ein Pedant, ein Perfektionist, ein verrückter Sammler. Auch die Wände waren über und über bedeckt mit Werkzeugen aller Art. Auf einem Tisch lagen Schreibutensilien, Stifte, Pinsel, Malerrequisiten. Dort fand sie, wonach sie suchte. Shan, die Lotusblüte, stieg katzengleich ins Zimmer und versteckte sich hinter einem frei stehenden Regal.
    Sie hörte ihm noch eine Weile zu. Sie erfuhr Interessantes. Etwa, dass beim Weißwurstanschlag kein Milligramm Botulin verwendet wurde.
Lieber Herr Kommissar, Sie haben mich vielleicht heute auf der Beerdigung vermisst, Sie haben mich gesucht und nicht gefunden –
    Der Sucher nach dem richtigen Ausdruck verstummte mitten im Wort. Ein schwarzer breiter Strich, ähnlich einem Zensurbalken, führte plötzlich quer über seinen Mund. Es war kein Zensurbalken, es war dickes schwarzes Klebeband, das ihm Shan von hinten auf den Mund gespannt hatte. Sein erster Impuls war, nach dem Band in seinem Gesicht zu greifen, es schnell wieder herunterzureißen, doch da spürte er einen brennenden Schmerz an seinem Handgelenk, und er kam gar nicht dazu, sich von dem Knebel zu befreien. Er musste mit der anderen Hand, mit der unverletzten Schreibhand dort hingreifen, wo es wehtat. Sein Schreibtischstuhl wurde herumgedreht. Wie aus dem Erdboden gewachsen, stand vor ihm eine kleine zierliche Frau im schlabberigen Jogginganzug mit einer über den Kopf gezogenen Skimütze, und sie hielt einen Schürhaken in der Hand, dessen Spitze glühte.
     
    Er hatte den Eindruck, dass sich die Frau ein wenig verneigte und dass sie den Schürhaken in einer kämpferisch gespannten,
fast eleganten, tänzerischen Weise in der Hand hielt. Sie bewegte die improvisierte Waffe langsam auf und ab. Diese gespenstische Szene jagte ihm mehr Angst ein, als wenn ein bulliges Monstermannsbild vor ihm gestanden hätte.
    »Bleiben Sie ganz ruhig«, sagte die Frau, »dann geschieht Ihnen nichts.«
     
    Shan hielt ihm das Eisenteil direkt vor die Nase, er konnte den Ruß und das verbrannte Papier riechen. Mit der anderen Hand wies sie nach hinten, zum sechs Meter entfernten Bullerofen.
    »Ich habe einen zweiten Schürhaken hineingelegt«, sagte sie. »Ich kann Sie also immer mit einem glühenden Stab bedrohen. Ein Angriff auf mich wäre deshalb ziemlich unklug. Haben Sie mich verstanden? Nicken Sie!«
    Er nickte. Er kannte die Frau nicht. Er konnte sich die Situation nicht erklären.
    »Sie nehmen jetzt ein Blatt Papier und einen Stift. Sie werden einen Brief schreiben, den ich Ihnen diktieren werde. Dann werde ich wieder verschwinden. Haben Sie mich verstanden?«
    Er nickte. Mit der unverletzten Hand suchte er nach einem neuen Stift. Shan stellte sich hinter ihn. Die heiße Spitze des Schürhakens war sicherlich nur ein paar Zentimeter von seinem Rückgrat entfernt. Sich umdrehen und versuchen, das Eisen wegzuschlagen? Vom Stuhl aus seitlich weghechten? Auf den Tisch springen und aus dem Fenster hüpfen? Alles Unsinn. Hatte sie etwas mit dem entführten US -General zu tun? Hatte er bei dieser Aktion in ein politisches Wespennest gestochen?
    »Wenn Sie bereit zum Schreiben sind, nicken Sie.«
    Er nickte. Was blieb ihm anderes übrig.
    »Schreiben Sie:
Lieber Kommissar Jennerwein, das ist mein letzter Brief an Sie.
Nicken Sie, wenn Sie den Satz zu Ende geschrieben haben.«
    Er nickte. Er verstand immer noch nichts. Rein gar nichts.
     Wieso bedrohte ihn diese Frau? Er bereute jetzt, nicht doch zur Beerdigung des Zitherers gegangen zu sein.
    »Schreiben Sie:
Die Sache ist mir über den Kopf gewachsen. Ich habe schwere Schuld auf mich geladen und weiß nicht mehr ein noch aus.
Haben Sie das?
«
    Er nickte. Es widerstrebte ihm, so etwas zu schreiben.
Schwere Schuld auf mich geladen.
Das war nicht sein Stil.
    »Schreiben Sie:
Irgendwann werden Sie mich fangen, Kommissar. Nach dem Neujahrsanschlag, nach dem Lawinenabgang, nach der Giftattacke gibt es keine Steigerung mehr. Ich möchte dem zuvorkommen und mich von Ihnen verabschieden.
Haben Sie?«
     
    Der Mann mit dem Klebeband über dem Mund nickte matt. Blankes Entsetzen stieg in ihm auf. Das war ein Abschiedsbrief! Das war sein eigener Abschiedsbrief. Er überlegte fieberhaft, was das für einen Sinn haben sollte. Steckte am Ende diese Frau hinter dem Neujahrsanschlag?
    »Geben Sie mir Ihren Personalausweis«, sagte die Frau. »Wo ist er? Deuten Sie hin.«
    Er griff nach seiner Gesäßtasche und spürte sofort einen heftigen Faustschlag auf seinem rechten

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