Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
fünfstöckigen Wohnblock wirkte wie ausgestorben. Die Mittagshitze hatte die Menschen von den Straßen vertrieben. Susanne Jessen brachte das Fenster in Kippstellung und ließ den Rollladen herunter. Dann fiel ihr etwas ein. Im Flur blätterte sie den Wandkalender um, an dem noch die beiden Seiten der Vormonate hingen, und betrachtete die mit Leuchtstift markierten Tage. Sie fühlte sich bestätigt, als sie den Namen ihres geschiedenen Mannes las, der quer über das bevorstehende Wochenende geschrieben war. Bestimmt hat er sie wieder direkt von der Schule abgeholt, dachte sie verärgert und musterte die gepackte Sporttasche, die an der Wohnungstür lehnte. Einen Moment lang überlegte sie, ihn anzurufen, und griff nach dem Telefon. Eigentlich wollte sie nicht mit ihm reden. Die Gespräche endeten meist in einer Auseinandersetzung. Sie betrachtete eines der Bilder an der Wand. Manuela an ihrem ersten Schultag. Sie sieht so hübsch aus, dachte sie. Und so glücklich. Bestimmt war sie bei ihm und würde das Gespräch mitbekommen. Susanne Jessen legte das Telefon wieder auf die Ablage und beruhigte sich mit der Annahme, dass er in seiner Wohnung noch einige Kleidungsstücke ihrer Tochter vorrätig hatte. Dann ging sie zurück in die Küche und kippte den verbrannten Milchreis in den Mülleimer.
Kurz vor Mitternacht erreichte ein Luchs ein Waldgebiet am Rand der Schwäbischen Alb. Zwei Wochen lang war er seinem Spürsinn gefolgt und den weiten Weg aus dem Bayerischen Wald in den Südwesten des Landes gelaufen. Zumeist nachts und, so oft es ging, durch die scheinbar endlos zusammenhängenden Waldgebiete der oberschwäbischen Hügellandschaft. Durch das dichte Unterholz eines Mischwaldes umging er ein kleines Dorf. Der Geruch von Menschen brachte den Tod. Diese Erfahrung hatte er dort gemacht, wo er herkam und dem Gemetzel einer Treibjagd entkommen war. Er wusste nicht, dass er eine verräterische Spur zurückließ. Dort, wo seine Pfoten den feuchten Lehmboden berührten. Seiner Natur gemäß zog er die Krallen während des Laufens zurück. Später würden Jäger die Fährte deuten und Jagd auf ihn machen, weil er eine Bedrohung für das Niederwild der Gegend darstellte.
An einem Bach stillte er gierig seinen Durst. Obwohl er noch jung und kräftig war, machte ihm die Hitze der vergangenen Tage zu schaffen. Selbst in den Nächten war es so warm, dass er sich unwohl fühlte. Nachdem er getrunken hatte, stellte sich ein Hungergefühl ein. Sein Instinkt führte ihn durch eine Tannenschonung nach Norden. In der Nähe vernahm er Motorengeräusche. Auch davon hielt er sich, so gut es ging, fern.
Als er einen weiteren Kilometer gegangen war, witterte er einen Menschen. Er blieb stehen und streckte den Kopf nach oben. Der Geruch war schwächer, als er ihn für gewöhnlich kannte. Neugierig näherte er sich der Stelle, an der er die Person vermutete. In einigen Metern Entfernung sah er einen leblosen Körper am Boden liegen. Eine Zeitlang verharrte er regungslos auf der Stelle, lauschte mit seinen Pinselohren und witterte. Schließlich entschied er, dass keine Gefahr drohte, und näherte sich erwartungsvoll. Mehrere Male stieß er mit der Pfote gegen ein Bein. Immer auf Gegenwehr gefasst und bereit, einen Angriff zu parieren oder notfalls zu flüchten. Aber nichts passierte. Dann zerriss er mit seinen Schneidezähnen die Kleidung und begann, sich an dem warmen Fleisch satt zu fressen.
SAMSTAG
20. Juli 2013
P olizeiobermeisterin Lea Thomann warf ihre verschwitzten Joggingklamotten in den Wäschekorb und schlüpfte in die Duschkabine. Sie genoss es, wie das heiße Wasser auf ihre Haut prasselte. Es gab wirklich nichts Entspannenderes als eine wohltuende Dusche nach einem Trainingslauf. Fehlt nur noch jemand, der mir die Kopfhaut massiert, dachte sie.
Lea stellte das Wasser ab und griff nach der rosafarbenen Tube des Duschpeelings von Shiseido. Die cremige Substanz roch nach Limetten und Vanille. Sie liebte diesen Geruch. Ebenso mochte sie das Kribbeln der sandigen Konsistenz und das Gefühl auf der Haut, wenn sich die Peeling-Perlen nach und nach auflösten. Anschließend kümmerte sie sich um ihre Haare. Die Spitzen reichten bis knapp über ihren Po und überdeckten den kleinen Skorpion, den sie sich vor einigen Wochen hatte tätowieren lassen.
Nachdem sie fertig geduscht hatte, griff sie nach einem Handtuch und wickelte es mit wenigen Handgriffen zu einem kleinen Turban. Sie musterte sich kurz kritisch im Spiegel.
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