Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
erwischt haben. Sonst dreht der vollends durch.«
In den folgenden Minuten sprach niemand ein Wort. Kepplinger ärgerte sich maßlos. Schließlich unterbrach Lea die Stille: »Ich könnte mir übrigens auch vorstellen, dass Kaufmann mit Sander gemeinsame Sache macht.«
Kepplinger widersprach. »Möglich ist das natürlich schon, aber das wären wirklich viele Zufälle auf einmal. Ich gehe mittlerweile davon aus, dass Kaufmann nichts mit dem Mord zu tun hat. Es war einfach Glück für uns, dass er sich sprichwörtlich zur falschen Zeit am falschen Ort herumgetrieben hat.«
»Aber Manuela gehörte zu den potenziellen Opfern, auf die er es abgesehen hatte«, erwiderte Lea. »Viele der Mädchen in seinen Ordnern sahen ihr ähnlich.«
Sie erreichten die Göppinger Innenstadt. Einige Straßen zu den höher gelegenen Wohngebieten hatten sich bereits in reißende Flüsse verwandelt. Kepplinger wich einer Mülltonne aus, die von den Wassermassen mitgerissen wurde. Endlich lenkte er den Wagen auf den Hof der Polizeidirektion.
»Am besten, wir stellen ihn gleich in die Garage«, schlug Markus Ackermann vor. Kepplinger ließ seine Mitfahrer aussteigen, bevor er den Renault in eine der Einsatzgaragen fuhr und die wahrscheinlich letzte Fahrt des Fahrzeugs in die Begleitpapiere eintrug. Dann folgte er seinen Kollegen in das Bürogebäude.
Die Scheibenwischer des Mercedes liefen auf Hochtouren. Trotzdem war es beinahe unmöglich, die Umrisse der Straße zu erkennen. Von einer Sekunde auf die andere hatte sintflutartiger Regen eingesetzt, und auf den Straßen bildete sich ein dreckiger Schmierfilm. Ständig drohte der Wagen auszubrechen. Obwohl es erst drei Uhr mittags war, bedeckte eine tiefschwarze Dämmerung die Region. Auf den ausgetrockneten Böden der angrenzenden Felder und Wiesen bildeten sich binnen weniger Minuten riesige Wasserflächen.
Gerd Jessen atmete schwerfällig durch den Mund. Seine Nase fühlte sich an wie ein dicker, geschwollener Klumpen. Angestrengt versuchte er, die Fahrtroute mitzuverfolgen. Erich Sander hatte ihm, kurz bevor sie den Parkplatz verlassen hatten, die Augen verbunden.
Zuerst bogen sie nach links in Richtung einer kleinen Voralbgemeinde ab. Kurze Zeit später war der Wagen nach einem Stopp rechts abgebogen. Gerd Jessen vermutete, dass sie nach Göppingen fuhren. Doch nachdem sie mehrmals die Fahrtrichtung geändert hatten, verlor er die Orientierung. Einige Male klingelte hinter ihm ein Mobiltelefon, das wahrscheinlich auf dem Rücksitz lag. Sander setzte die Fahrt ohne Reaktion fort. Das laute Trommeln des Regens auf dem Wagendach lenkte Jessen zusätzlich ab. Schließlich gab er es auf, sich Gedanken über die Fahrstrecke zu machen. Er sorgte sich nun vielmehr um das Ende dieser Fahrt. Was hatte Erich Sander mit ihm vor? Er hatte keine Vorstellung davon, was ihn erwartete. Aber eins stand fest: Sein Leben war in Gefahr. Sander hatte kaltblütig seine Tochter ermordet. Zu Beginn der Fahrt hatte er mit stoischer Stimme von der Tat berichtet: wie er Manuela vor der Schule in seinen Wagen gelockt, ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht und im Schlaf die Atemwege verschlossen hatte. »Glaub mir, sie hat weniger gelitten, als meine Tochter. Dafür solltest du mir dankbar sein.«
»Und jetzt willst du mich töten?«, hatte Jessen gefragt und keine Antwort erhalten. Das Schweigen und die Ungewissheit waren beinahe unerträglich. Erneut erklang hinter ihm der seltsame Klingelton des Mobiltelefons. Der Anfang irgendeines bescheuerten Volksliedes. Für ihn klang es wie die Titelmelodie eines Horrorfilms. Gerd Jessen hatte das Gefühl, geradewegs in die Hölle zu fahren.
Auf der Dienststelle herrschte ein heilloses Durcheinander. Die komplette Telefonanlage war ausgefallen. Aus dem Keller drang hektisches Stimmengewirr in die oberen Stockwerke. Salvatore berichtete von einer Überflutung. In einigen Räumen, in denen sich Akten und elektronische Geräte befanden, standen die Helfer bereits knietief in einer Schlammbrühe und versuchten zu retten, was möglich war. Feuerwehrleute hantierten mit Pumpen, um das eingedrungene Wasser nach draußen zu befördern. Kepplinger suchte vergeblich seinen Vorgesetzten. Niemand wusste, wo er war.
Die Zeit drängte, und es war unmöglich, jetzt die Suche nach Erich Sander für mehrere Stunden zu unterbrechen. Sollten sie mit ihren Vermutungen recht haben, war Jessen in großer Gefahr. Die Tatsache, dass Sander und Jessen wie vom Erdboden verschluckt schienen,
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