Hochzeit auf Raten
anhaltend die Hände rieb.
Papa und Mutti nickten zustimmend. Papa unterstrich seinerseits meine Bemerkung mit einem Hustenanfall.
»Und schon so früh in diesem Jahr«, sagte Mutti.
»Das Wetter ist nicht mehr, wie es einmal war«, sekundierte Papa wegwerfend. »Es gibt keinen richtigen Sommer und keinen richtigen Winter mehr.«
»Immer nur diese naßkalte, unfreundliche Witterung«, rundete ich das meteorologische Bild ab, ängstlich nach dem Kater schielend, der auf dem Sofa lag und sich seit meinem Eintreten noch nicht bewegt hatte.
Wir nützten die Gesprächspause, um uns neuerlich um strahlende Gesichter zu bemühen.
»In der Stadt ist es besonders schlimm«, begann Mutti die zweite Runde. »Man hat von den Jahreszeiten nur die Nachteile.«
»Dazu die schlechte Luft, die Auspuffgase und der Rauch«, hustete Papa.
»Ja, mein müßte auf dem Lande leben«, pflichtete ich eifrig bei.
»Ja, man müßte auf dem Lande leben«, wiederholten wir im Chor.
Dann herrschte wieder Schweigen, bis Isabell mit den Brötchen und dem Cognac kam. Sie wurde wie der General einer Armee begrüßt, die ein vom Feind bereits vierzehn Tage eingeschlossenes Regiment entsetzt.
»Greifen Sie doch zu«, lud mich Mutti ein, froh darüber, ein neues Gesprächsthema gefunden zu haben.
Ich tat es.
»Nehmen Sie ein Gläschen«, forderte mich Papa auf.
Ich tat es.
»Lassen Sie es sich schmecken«, forderte mich Papa auf.
Ich tat auch das.
Plötzlich gefror mir das Blut in den Adern. Der Kater war erwacht und begann sich faul zwischen den Polstern zu rekeln. Mit offenem Mund starrte ich auf das Vieh, von dem mein weiteres Schicksal in diesem Haus abhing. Würde er mir seine Gunst bezeugen oder mich anknurren? Doch der Kater sah mich nur eine Sekunde lang blinzelnd an und schlief weiter.
Schweratmend stürzte ich meinen zweiten Cognac hinunter und wollte schon mechanisch nach der Flasche greifen, als ich die Augen Papas mißbilligend auf mir ruhen fühlte. Ich erkannte, daß ich im Begriff war, das abstoßende Bild der Unmäßigkeit zu geben.
»Greifen Sie doch zu«, lud mich Mutti neuerlich ein.
»Vielen Dank, gnädige Frau«, gab ich vorsichtig zurück, während ich meine Augen nur mit Aufbietung aller Kräfte von dem köstlichen Lachs lösen konnte. »Ich pflege des Abends nur eine Kleinigkeit zu essen.«
»Dann trinken Sie noch etwas«, forderte mich Papa auf.
»Vielen Dank«, sagte ich, »ich habe bereits mehr zu mir genommen, als ich gewöhnt bin. Normalerweise trinke ich überhaupt keinen Alkohol.«
»Verschmähen Sie etwa auch eine gute Zigarre?« hustete Papa, nervös an einer Silberdose herumfingernd.
»An hohen Festtagen gewiß nicht«, bekannte ich leise und versteckte meine nikotingebräunten Finger zwischen den Knien.
Mutti und Papa warfen sich vielsagende Blicke zu, indessen Isabell bemüht War, mit einem Erstickungsanfall fertig zu werden.
Dann ließ ich mich doch überreden, ausnahmsweise eine Zigarre zu probieren. Papa amüsierte sich über meine Unbeholfenheit, die durchaus echt war, da ich meine Rechte aus begreiflichen Gründen zwischen den Knien behalten mußte.
»Unmäßigkeit ist das Gift unserer Zeit«, hustete Papa hinter einer mächtigen Rauchwolke. »Doch man braucht nicht päpstlicher zu sein als der Papst, noch dazu, wenn man so jung ist wie Sie.«
»Gewiß«, räumte ich ein, »leider habe ich in meinem Leben zu oft mit ansehen müssen, was Alkohol und Nikotin aus Menschen machen können. So bin ich vielleicht in meinen Ansichten etwas übertrieben.«
Der zweite Erstickungsanfall Isabells war so heftig, daß sie den Raum verlassen mußte. Mutti und Papa musterten mich jetzt mit unverhohlenem Wohlwollen. Die Stunde des Familienalbums hatte geschlagen.
Mutti übernahm es, die verstaubten Bände zutage zu fördern. Die Fülle der Verwandten, die sie boten, war überwältigend. Die Urgroßtante im Schleppkleid, der Großvater im Jägeranzug, der Großonkel in vollem Ordensschmuck, Tante Aloisia auf dem Opernball, Tante Agathe mit dem Schäferhund Rex, Onkel Eusebius als blutjunger Leutnant, Cousin Waldemar als frischeingekleideter Franziskaner, die Mutti bei der ersten Kommunion, Papa unter dem Riesenrad . .. und dazwischen — auf Bären- und Lammfellen eine Unzahl von Nackedeis, die, wenn sie nicht gestorben waren, als Verwandte ersten, zweiten, dritten und vierten Grades irgendwo in der Welt ruhmvoll tätig waren.
Mutti und Papa überboten sich, mir die einzelnen Lebensgeschichten
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