Hochzeit kommt vor dem Fall
Er war den ganzen Tag nicht hier, und sein Abendessen ist hin … Oh, Mr. Kirk! Joe ist doch nicht in Schwierigkeiten, oder? Martha Ruddle hat solche Sachen herumerzählt – Arthur! Böser Junge – wenn du jetzt nicht Ruhe gibst, nehm’ ich dir das Pferd weg.«
Kirk schnappte sich Arthur und stellte ihn energisch zwischen seine kräftigen Beine.
»So, nun sei ein braver Junge«, ermahnte er ihn. »Ganz schön gewachsen, nicht? Macht Ihnen wohl viel Arbeit. Also, Mrs. Sellon – ich wollte mal gern ein bißchen mit Ihnen über Joe reden.«
Kirk hatte den Vorteil, in dieser Gegend aufgewachsen zu sein; genauer gesagt, er war in Great Pagford geboren. Er hatte Mrs. Sellon bisher höchstens zwei- oder dreimal gesehen, aber er war wenigstens kein vollkommen Fremder und wirkte darum nicht so einschüchternd. Mrs. Sellon konnte ihm getrost ihre Ängste und Nöte ausschütten. Wie Kirk vermutet hatte, wußte sie von Mr. Noakes und seiner abhandengekommenen Brieftasche. Seinerzeit hatte Joe ihr natürlich nichts davon gesagt, aber später, als die wöchentlichen Zahlungen schwer auf dem Haushaltsbudget zu lasten begannen, hatte sie es ihm »aus der Nase gezogen«. Seitdem lief sie in ständiger Angst herum, daß irgend etwas Schreckliches geschehen könnte. Und dann habe Joe heute vor einer Woche hingehen und Mr. Noakes sagen müssen, er könne diese Woche nicht bezahlen, und als er zurückgekommen sei, habe er »grauenhaft ausgesehen« und gesagt, sie seien »ein für allemal erledigt«. Er sei die ganze Woche »sehr komisch« gewesen, und nun sei Mr. Noakes tot und Joe verschwunden, und Martha Ruddle habe ihr gesagt, es habe einen fürchterlichen Streit gegeben, und »oh, ich weiß nicht, Mr. Kirk, ich habe solche Angst, daß er etwas Unbedachtes getan haben könnte«.
Kirk fragte so behutsam wie möglich, ob Joe ihr etwas über seinen Streit mit Mr. Noakes gesagt habe. Nein, nicht direkt. Er habe nur gesagt, Mr. Noakes habe auf gar nichts gehört, und es sei alles aus. Auf Fragen habe er nicht geantwortet – anscheinend habe er die Nase bis oben voll gehabt. Dann habe er plötzlich gesagt, er glaube, es sei das beste, alles hinzuschmeißen und zu seinem älteren Bruder nach Kanada zu gehen, und ob sie mit ihm komme? Sie habe gesagt, du lieber Himmel, Joe, Mr. Noakes werde doch sicher nicht hingehen und ihn verraten, denn es sei doch schon so lange her – eine Gemeinheit wäre das, erst recht, nachdem er das viele Geld bezahlt habe! Joe habe nur düster geantwortet: »Na ja, du wirst es ja morgen sehen.« Und dann habe er mit dem Kopf in den Händen dagesessen, und es sei nichts mehr aus ihm herauszubekommen gewesen. Anderntags hätte sie gehört, daß Mr. Noakes fortgefahren sei. Sie habe Angst gehabt, er sei nach Broxford gefahren, um Joe anzuzeigen; aber nichts sei gekommen, und Joe habe sich wieder etwas gefangen. Und dann habe sie heute morgen gehört, daß Mr. Noakes tot sei, und sie sei ja so froh gewesen, das könne man sich gar nicht vorstellen. Aber nun sei Joe irgendwohin fort, und Martha Ruddle sei mit ihrem Gerede dahergekommen – und da Mr. Kirk die Geschichte mit der Brieftasche herausbekommen habe, sei wohl sicher alles aus, und ach du lieber Gott, was solle sie denn nur tun, und wo war Joe?
Das alles war nicht sehr tröstlich für Mr. Kirk. Es hätte ihn sehr beruhigt, zu hören, daß Sellon mit seiner Frau offen über den Streit gesprochen habe. Und schon gar nicht gefiel ihm die Erwähnung des Bruders in Kanada. Wenn Sellon wirklich Noakes umgebracht hatte, war seine Chance, nach Kanada zu entkommen, etwa so groß wie die, König der Kannibaleninseln zu werden, und das mußte ihm der Verstand auch gesagt haben; aber daß es sein erster blinder Drang gewesen war, das Land zu fliehen, war auf unangenehme Weise bedeutungsvoll. Dabei mußte Kirk kurz daran denken, welch schreckliche Zeit der Mörder durchgemacht haben mußte, gleich wer es war. Es war nämlich sehr unwahrscheinlich, daß er oder sie Noakes die Kellertreppe hinuntergeworfen hatte – warum war sonst die Tür offen gelassen worden? Der Mörder mußte, nachdem er Noakes erschlagen und vermeintlich tot zurückgelassen hatte, erwartet haben, daß – was eigentlich? Nun, wenn er es im Wohnzimmer oder der Küche oder irgendeinem der unteren Zimmer getan hatte, bestand die Gefahr, daß die Leiche entdeckt wurde, sowie irgendwer zufällig zu einem der Fenster hereinsah – Mrs. Ruddle oder der Postbote oder irgendein
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