Hochzeit kommt vor dem Fall
anderen Dingen von Interesse zur Verfügung. Diese herzzerreißende Höflichkeit wurde unterstrichen von Episoden verlangender, verzehrender Leidenschaft, die sie nicht nur durch ihre rückhaltlose Selbstaufgabe erschreckten, sondern vor allem dadurch, daß sie augenscheinlich automatisch und nahezu unpersönlich waren. Sie war froh darum, weil er danach immer schlief wie betäubt, aber jeder neue Tag sah ihn nur noch fester verschanzt hinter irgendeinem Schutzwall, und sie selbst war für ihn immer weniger ein eigener Mensch. In seiner gegenwärtigen Stimmung hatte sie das unglückliche Gefühl, daß ihm fast jede Frau genügt hätte.
Sie war der Herzogin, die sie davor gewarnt und somit bis zu einem gewissen Grade gewappnet hatte, unsäglich dankbar. Sie fragte sich, ob ihre eigene Entscheidung, »nicht die besorgte Ehefrau zu spielen«, klug gewesen war. Sie schrieb der Herzogin und bat sie um Rat. Deren Antwort, die sich über eine ganze Reihe von Themen erstreckte, lautete kurzgefaßt: »Laß ihn seinen eigenen Weg da heraus finden.« In einem Postscriptum ergänzte sie:
»Noch eines, meine Liebe – er ist noch da, und das ist sehr ermutigend. Es ist so leicht für einen Mann, einfach woanders zu sein.«
Etwa eine Woche vor der Hinrichtung kam Mrs. Goodacre im Zustand höchster Erregung an. »Dieser elende Crutchley!« sagte sie. »Ich wußte doch, daß er Polly Mason in Schwierigkeiten bringen würde, und das hat er. Und was nun? Selbst wenn er die Erlaubnis bekäme, sie noch zu heiraten, und es auch wollte – und ich glaube nicht, daß ihm für einen Pfifferling an dem Mädchen liegt –, wäre es dann eigentlich besser für das Kind, keinen Vater zu haben oder einen, der wegen Mordes gehängt wurde? Ich weiß es jedenfalls nicht! Sogar Simon weiß es nicht – obwohl er natürlich sagt, er solle sie heiraten. Ich wüßte nicht, warum er es nicht tun sollte – für ihn ändert es ja nicht mehr das allermindeste. Aber jetzt will ja auch das Mädchen nicht mehr – sie sagt, sie will nicht mit einem Mörder verheiratet sein, und das kann ich ihr bestimmt nicht verdenken. Ihre Mutter ist natürlich außer sich. Sie hätte Polly eben zu Hause behalten oder in eine gute Stellung schicken sollen – ich habe ihr gesagt, daß sie viel zu jung sei, um in dieser Tuchhandlung in Pagford zu arbeiten, und so gar nicht gefestigt, aber es ist natürlich jetzt zu spät, das zu sagen.«
Peter fragte, ob Crutchley etwas von dieser Entwicklung wisse.
»Das Mädchen sagt nein … Und – ach du meine Güte!« rief Mrs. Goodacre, der mit einemmal eine ganze Reihe von Möglichkeiten aufging. »Man stelle sich vor, der alte Noakes hätte sein Geld gar nicht verloren und man wäre Crutchley nicht auf die Schliche gekommen, was wäre dann aus Polly geworden? Er wollte ja dieses Geld auf Biegen und Brechen haben … also, wenn Sie mich fragen, liebe Lady Peter, ist Polly knapper davongekommen, als sie sich träumen läßt.«
»Nun, dazu wäre es vielleicht nicht gekommen«, sagte Harriet.
»Vielleicht nicht, aber ein unentdeckter Mord führt zu weiteren. Darum geht es jedoch jetzt nicht. Es geht darum, was mit dem Baby geschehen soll, das da unterwegs ist.«
Peter sagte, er finde, man müsse Crutchley auf jeden Fall Bescheid sagen. Er halte es für nicht mehr als fair, dem Mann die Chance zu geben, sein Möglichstes zu tun. Er bot sich an, mit Mrs. Mason zum Gefängnisdirektor zu gehen. Mrs. Goodacre sagte, das sei sehr freundlich von ihm.
Harriet, die Mrs. Goodacre den Gartenweg hinunter bis zum Tor begleitete, sagte, es werde ihrem Mann guttun, etwas Konkretes für Crutchley unternehmen zu können; er nehme es sehr schwer.
»Das glaube ich gern«, sagte Mrs. Goodacre. »Man sieht ihm an, daß er so einer ist. Simon ist ja genauso, wenn er einmal mit jemandem streng sein muß. Aber so sind die Männer. Sie wollen immer, daß etwas geschieht, aber dann gefallen ihnen natürlich die Konsequenzen nicht. Die Ärmsten, sie können nichts dafür. Sie können nun einmal nicht logisch denken.«
Peter berichtete am Abend, daß Crutchley sehr wütend gewesen sei und es kategorisch abgelehnt habe, mit Polly oder irgendeinem anderen verdammten Frauenzimmer noch etwas zu tun zu haben. Er habe sich sogar rundheraus geweigert, mit Mrs. Mason oder Peter oder wem auch immer zu sprechen, und zum Gefängnisdirektor habe er gesagt, er solle ihn gefälligst in Ruhe lassen. Peter begann sich jetzt darüber den Kopf zu
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