Hochzeit zu verschenken
doch nicht vor Michael anfangen zu heulen. Was würde er denn von mir halten?
Oder wer weiß, vielleicht würde er dann glauben, dass ich etwas weiß, das er nicht weiß. Vielleicht würde er glauben, dass wir seine Krankenakte eingesehen haben und dass das mit der Angina gar nicht stimmt. Dass er in Wirklichkeit ein inoperables Blutgerinnsel im Hirn hat, das nur von einem Superspezialisten aus Chicago behandelt werden kann, der es aber abgelehnt hat, Michael als Patienten anzunehmen, weil zwischen den beiden Krankenhäusern eine alte Fehde besteht...
Hm. Ich glaube, ich sollte das hier wirklich nicht ständig mit Emergency Room verwechseln.
Ich atme mehrfach tief durch, um mich zu beruhigen, gehe zur nächstgelegenen Sitzgelegenheit und platziere mich neben einer Frau mittleren Alters in einer alten blauen Strickjacke.
»Alles in Ordnung?« Als ich zu ihr aufsehe, hält sie mir ein Papiertaschentuch entgegen. »Das geht einem ganz schön an die Nieren, was?«, bemerkt sie mitfühlend, während ich mir die Nase putze. »Ist jemand aus Ihrer Verwandtschaft hier?«
»Nein, nur ein Freund. Was ist mit Ihnen?«
»Mein Mann Ken«, sagt die Frau. »Hat einen Bypass eingesetzt bekommen.«
»Oh, Gott. Das... tut mir Leid.«
Mir läuft ein Schauer den Rücken herunter, als ich versuche, mir vorzustellen, wie ich mich fühlen würde, wenn Luke statt Michael in dem Krankenhausbett liegen würde.
»Er müsste eigentlich über den Berg kommen, wenn er in Zukunft ein bisschen gesünder lebt. Männer. Kümmern sich wirklich überhaupt nicht um ihre Gesundheit.« Sie schüttelt den Kopf. »Aber wenn man dann erst mal hier ist... dann wird einem plötzlich klar, was wirklich wichtig ist, stimmt‘s?«
»Allerdings«, pflichte ich ihr ernst bei.
Wir sitzen eine Weile schweigend nebeneinander, und ich denke ziemlich besorgt über Luke nach. Vielleicht sollte ich ihn dazu bringen, ein bisschen öfter ins Fitnessstudio zu gehen. Und diesen fettarmen Brotaufstrich zu essen, der den Cholesterinspiegel senkt. Nur, um ganz sicherzugehen.
Irgendwann lächelt die Frau mich an, steht auf und geht. Aber ich bleibe sitzen. Ich möchte Luke und Michael noch ein bisschen Zeit unter vier Augen geben. Drüben am Fenster sitzen zwei Patienten in Rollstühlen und unterhalten sich, und eine ziemlich zerbrechlich wirkende alte Frau begrüßt ihre - wie ich vermute - Enkel. Sie fängt an, über das ganze Gesicht zu strahlen, als sie die Kinder sieht, und wirkt auf einmal zehn Jahre jünger. Das darf doch nicht wahr sein! Jetzt fange ich schon wieder an zu schniefen!
Ganz in der Nähe sitzen zwei Mädchen in Jeans. Die eine lächelt mich freundlich an.
« Süß, was?«, sagt sie.
»Ich bin sicher, wenn die Leute nur immer ihre Familie um sich herum haben könnten, dann würden sie bestimmt zehntausend Mal schneller wieder gesund werden«, ereifere ich mich. »In den Krankenhäusern sollten auf jeder Etage Gästezimmer eingerichtet werden. Dann könnte man die Patienten bestimmt schon nach der Hälfte der sonst üblichen Zeit wieder entlassen!«
»Weise Worte«, sagt eine sehr angenehme Stimme hinter mir. Überrascht drehe ich mich um. Vor mir steht eine ausgesprochen hübsche, dunkelhaarige Ärztin und lächelt mich an. »Eine kürzlich in Chicago erstellte Studie hat nämlich genau das gezeigt.«
»Ach, ja?« Ich erröte vor Stolz. »Na ja... danke! Obwohl ich ja eigentlich einfach nur beobachtet habe, was ich um mich herum sehe -«
»Aber das ist genau die Einstellung, die die Ärzte heutzutage mitbringen müssen«, sagt sie. »Die Einstellung, auch mal über den Tellerrand der Krankenakten hinauszusehen. Den Patienten nicht nur als Patienten zu betrachten - sondern als Person. Als Mensch. Arzt zu sein bedeutet nicht nur, irgendwelche Prüfungen zu bestehen und die Namen der verschiedenen Knochen auswendig zu lernen. Arzt zu sein bedeutet, dass man versteht, wie ein Mensch funktioniert - und zwar nicht nur biologisch und körperlich, sondern auch seelisch.«
Wow. Ich muss schon sagen. Ich bin beeindruckt. Ich habe noch nie gesehen, dass britische Ärzte auf Fluren herumstehen und flammende Reden über ihren Berufsstand halten. In England rennen die immer nur an einem vorbei und sehen gestresst aus.
»Wollten Sie schon immer in die Medizin gehen?«, fragt sie mich und lächelt.
»Ahm... also... eigentlich...«, stammele ich.
Es wäre jetzt doch wohl ein bisschen unhöflich zu sagen, dass ich noch nie auch nur im Entferntesten daran
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