Hoehenfieber
wegmüssen.“
„Was schlägst du denn vor?“, wollte Vanita wissen.
„Wir brechen etwa eine Stunde nach Anbruch der Dunkelheit in Richtung Guantánamo auf. Vor dem Morgengrauen suchen wir uns ein Versteck und warten die nächste Nacht ab.“
„Und was ist mit ihm?“ Quinn sah zu dem Verletzten hinüber.
„Vermutlich wird er die Nacht nicht mehr erleben“, sagte Dix.
„Aber wir können ihn doch nicht einfach hier zurücklassen“, protestierte Quinn. „Und wenn er wirklich stirbt, dann dürfen wir nicht den armen Leuten hier …“ Sie verstummte abrupt. Sollten der Bauer und seine greise Mutter den Mann etwa in nackter Erde begraben? Sollten sie neben einem Leichnam verharren, bis irgendwer ihnen zu Hilfe kam? Sie würden sich nur selbst in Gefahr bringen. „Er kann auf keinen Fall hierbleiben!“ Egal, ob lebendig oder tot, wollte sie hinzufügen, doch an den Worten schluckte sie schwer. „Die armen Leute haben genug eigene Probleme.“ Tränen der Wut und der Scham brannten in ihren Augen. Das alles war ihr auf einmal alles zu viel, sie spürte, wie alle Kraft sie verließ. Ihr Innerstes schrie revoltierend auf, und wieder einmal schnürte ihr die Schuld die Kehle zu.
Sofort war Virge an ihrer Seite und nahm sie in die Arme. „Liebes, nimm es nicht so schwer. Den beiden hier geht es vergleichsweise gut. Es gibt leider noch weitaus Schlimmeres“, sagte er dicht an ihrem Ohr.
Aufgebracht schob sie seine Arme von sich. Sie wusste nicht, worauf sie jäh wütender reagierte: Auf ihn, weil er die erbärmliche Situation und womöglich auch den vermutlich bevorstehenden Tod des Mannes beschwichtigen wollte oder auf sich. Sämtliche Gefühle wirbelten wie ein Hurrikan durcheinander. Die Armut dieser Menschen, die ein erbarmungswürdiges Leben führten und ihnen, den Wildfremden, dennoch selbstlos halfen. Quinns Scham, sich bei ihnen einzunisten und das Wenige anzunehmen, das sie ihnen geben konnten. Ihr Entsetzen, dass sie niemals vorher Armut wirklich gesehen hatte. Ihre Stinkwut auf Superreiche wie Sheikh Rashad, der mit all seinem Geld so viel Gutes tun könnte.
Natürlich kannte sie Berichte und Bilder aus den Ländern der Dritten und Vierten Welt. Doch persönlich damit konfrontiert zu sein und sich vorzustellen, dass es noch weitaus mehr Elend gab, traf sie bis ins Mark. Dabei war die Erkenntnis am Schlimmsten, dass Virge recht hatte.
Dem Bauern und seiner Mutter ging es im Vergleich zu Millionen anderer Menschen noch gut. Sie hatten ein Dach über dem Kopf und sahen nicht unterernährt aus. Dass ihr nicht einmal ein anderes Wort als gutgehen einfiel, schmerzte noch mehr. Wenn dieses Dasein hier bereits unter aller Würde war – wie sollte sie erst Hunger, Obdachlosigkeit, Kindersterben und Krieg bezeichnen?
Unwirsch wischte sie sich über die Augen und sackte , ohne weiter nachzudenken , neben dem Verletzten auf die Knie.
Sie durfte nicht weiter tatenlos zusehen.
Ihre Muskeln protestierten und ihr Becken ächzte, doch sie biss die Zähne zusammen.
„Quinn“, rief Vanita und das Entsetzen ihrer Freundin sprang ihr förmlich in den Nacken, „komm da weg!“
Auch Virgin versuchte, sie zurückzuhalten, doch sie funkelte ihn an. „Lass mich!“ Ihr Tonfall ließ seine ausgestreckte Hand zurückschnellen.
Sie achtete nicht weiter auf Virge und Van, sondern widmete sich dem Verletzten. Er lag auf dem Rücken, die Hände waren vor seiner nackten Brust mit einem Stoffstreifen zusammengebunden. Um die Hüften trug er noch immer den Gürtel, der die Wolldecke hielt.
Ihre Hände zitterten, als sie nach der Schnalle griff und sie öffnete.
„Liebes …“
Quinn fuhr herum. „Hör auf, mich Liebes zu nennen“, fauchte sie. Für den Bruchteil einer Sekunde tat Virge ihr leid. Er hatte nichts getan und verdiente es nicht, dass sie ihn so anfuhr, aber sie musste sich einfach Luft verschaffen, ehe sie innerlich explodierte.
Sie fuhr fort, den Verletzten auszuwickeln und hielt den Atem an. Der Stoff lag doppelt übereinander und verwehrte ihr die Sicht auf seinen Unterleib und die Beine. Die beiden Lagen klebten durch Schlamm und Blut aneinander, ein metallischer Geruch stach ihr in die Nase. Vorsichtig löste sie die Überlappung und klappte sie zur Seite. Jetzt lag nur noch eine Schicht auf den Gliedmaßen.
Vanita und Virgin hatten sich rechts und links neben ihr hingekniet, doch Quinn achtete nicht auf sie. Behutsam begann sie, die letzte Stoffschicht vom Körper zu lösen, was sich als
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