Höhenrausch (German Edition)
überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass Johann Berger es nicht ernst mit mir meint. Oder es zumindest demnächst ernst mit mir meinen könnte.
Warum halten es eigentlich alle für so komplett unwahrscheinlich, dass sich dieser Mann aufrichtig in mich verliebt? So was kann doch passieren. Sogar mir. Warum denn nicht? Leute entscheiden sich jeden Tag neu und verlassen Partner und Kinder. Es ist möglich!
Ich will, dass sich dieser Mann für mich entscheidet. Und ich hatte mit meiner modischen Aussage, gepaart mit emotionaler Zurückhaltung, doch einen großen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Minirock plus Minigefühl: Ich kriege dich, Johann Berger! Eins sage ich dir: Bis Silvester gehörst du mir!
Das hatte ich ihm natürlich nicht gesagt. Ebenso wenig, dass ich mir gut vorstellen könnte, die Weihnachtstage mit ihm zu verbringen. Man soll ja nichts überstürzen.
Ich stehe seit Minuten gedankenverloren vor dem Spiegel. Meine Zähne dürften jetzt blank genug geputzt sein. Der Nachteil an der Frischverliebtheit ist ja, dass man die Dinge nur noch wie in Trance und entsprechend unaufmerksam tut. Erst gestern war ich träumend eine Runde durch den Volkspark Friedrichshain spaziert und hatte erst auf dem Rückweg gemerkt, dass ich noch immer die Mülltüte mit mir rumtrug, die ich entsorgen wollte. Anschließend hatte ich mir aus Versehen eiskaltes Badewasser eingelassen.
Jetzt noch eine Runde Zahnseide. In diesen Tagen kann man sich ja gar nicht genug pflegen.
Wie war der gestrige Abend zu Ende gegangen? Hm, ich weiß noch, dass mit dem Alkoholpegel auch meine Verliebtheit dramatisch gestiegen war. Ich hatte versucht, Erdal zu erreichen, aber der war auf der Party in Travemünde, wo er Karsten treffen würde. Silke nahm auch nicht ab.
Daraufhin hatte ich noch mehrmals die Liebeskummersongs von Andreas gehört. Von Kummer bei mir selbstverständlich keine Spur. Schön, wie vielseitig solch Liedgut einsetzbar ist.
Und dann hatte ich …
O nein, das hatte ich nicht wirklich, oder?
Bitte nicht!
Ich haste mit Zahnseide im Mund ins Wohnzimmer. Mein Handy liegt zwischen der leeren Mumm-Flasche und einem Rest Krautsalat, in dem zwei Zigarettenkippen keine besonders gute Figur machen.
Panisch klappe ich das Telefon auf.
Hatte ich es getan? Hatte ich Johann Berger samstags um zwei Uhr nachts eine liebessehnsüchtige SMS geschrieben? Ohne zu wissen, ob seine Frau Zugang zu seinem Handy hat, sei es nun offiziell oder inoffiziell?
Verdammt, vielleicht war schon alles vorbei, ehe es richtig angefangen hatte.
Ich wähle «Nachrichten».
Ich wähle «Ausgang».
Nichts! Gott sei Dank.
Ich finde meine gefühlsduselige Nachricht schließlich unter «Entwürfe». Beim Lesen schäme ich mich. Teufel Alkohol, kann man da nur sagen. Ein Segen, dass ich aufgrund meines Promillepegels gestern Nacht vergessen hatte, die verhängnisvolle SMS abzuschicken.
Ich beschließe, diesen Sonntag so zu verbringen wie die Heldinnen in den Romanen, mit den englischen Landhäusern aus meinem heimischen Bücherregal. Sie trinken Tee, essen selbst gebackene Scones mit flüssiger brauner Butter, tragen dicke Socken, hüllen sich in kuschelige Decken und blicken, während es draußen langsam dunkel wird, von weichen Sofas in die unwirtliche Landschaft hinaus. Meist flackert noch ein Kamin, ein reinrassiger Labrador liegt schlafend zu Füßen der Heldin, und ein junger Landadeliger, der Edward oder Timothy heißt, ist unterwegs, um der Heldin sein Herz und ein paar eigenhändig geschossene Rebhühner zu schenken.
Ich versuche, diese Szenerie so naturgetreu wie möglich nachzustellen. Tee und dicke Socken hatte ich, auch ein paar greise Butterkekse, die ich ganz hinten im nicht gerade gut bestückten Vorratsschrank fand. Das Sofa war allerdings etwas durchgesessen, aber ich hatte es mit einer rosa Kuscheldecke aufgemöbelt, die ich wohlweislich aus Jülich mitgebracht hatte.
Bevor ich mich eingelebt hatte, war Andreas’ Wohnung, nun, man kann es ihm nicht übel nehmen, durch und durch männlich gewesen. Lichtquellen dienten ausschließlich dem Spenden von Licht, Essbares dem Stillen von Hunger, das Badezimmer der Säuberung des Körpers. Absolut abwesend waren essenzielle Dinge wie Blumenvasen, Tischdecken und Kerzenhalter. Ganz zu schweigen von so genannten Hinstellerchen. Auf diesen Notstand hatte ich bereits in einer meiner ersten Mails an Andreas hingewiesen.
Von: Linda Schumann
Betreff: Tiefkühlpizza bei
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