Höhenrausch (German Edition)
früher es dunkel wird, desto eher kann man es sich gemütlich machen.
Schrecklich, diese langen Sommerabende, an denen man bis um zehn vor sich selbst rechtfertigen muss, warum man nicht noch eine Runde joggen geht. Ich habe dann permanent ein schlechtes Gewissen, weil ich es nie schaffe, so aktiv zu sein, wie es die Jahreszeit von mir erwartet.
Ich bin ein Wintertyp. Allerdings, wie erwähnt, kein Schneetyp. Eine Ausnahme ist der Kunstschnee, den ich vergangenes Jahr auf meine Weihnachtsbaumkugeln gesprüht habe. Mit dem komme ich emotional sehr gut zurecht.
Ich blühe nicht im Sonnenschein auf, sondern unter dicken Decken. Das Schönste am Winter ist, dass der Sommer endlich vorbei ist. Man kann den Sekt wieder auf dem Balkon kühlen. Man muss nicht länger braun und dünn sein. Kann das Sofa mit Heizkissen pflastern und ab vier Uhr nachmittags Filme schauen, die, bei Sonnenlicht betrachtet, niemals in die engere Wahl kämen.
Niemand zwingt einen im Winter zu ausufernden Spaziergängen, und wenn doch, tritt man Gott sei Dank bloß in gefrorene Hundekacke. Ich könnte den ganzen Tag damit verbringen, mich zu freuen, dass schlechtes Wetter ist, und Holzscheite im Kamin nachzulegen. Leider habe ich keinen Kamin, und es gibt auch keinen jungen Landadeligen, der auf dem Weg zu mir ist.
Stattdessen verteile ich Teelichte auf Unterteller und habe einen Mittvierziger als Geliebten, der den heiligen Sonntag bei seiner Familie verbringt.
Bislang haben wir kein Wort gesprochen über Frau, Kind und Kiel. Wir tun einfach so, als gäbe es diesen Teil seines Lebens nicht. Ich frage nichts, er erzählt nichts. An den Wochenenden verschwindet er wie auf einen anderen Planeten.
Es ist wohl so, dass Affären nur so lange bequem funktionieren, wie der Betrug unausgesprochen bleibt und die Betrogenen keinen Namen und kein Gesicht haben.
«Du willst, dass er sich mit dir wohl fühlt», hatte Erdal gesagt, «also darfst du ihn nicht daran erinnern, dass er gerade seine Frau betrügt. Sage nie ihren Namen, erwähne nie sein Kind. Eine Affäre ist eine einsame Insel, auf der nur zwei Leute Platz haben: du und er.»
Seltsam, dass Erdal sich noch nicht gemeldet hat. Ich bin neugierig, wie sein Wiedersehen mit Karsten war. Wahrscheinlich ist wieder alles im Lot, und die beiden verbringen ein glückseliges Wochenende.
Ich checke mein Handy. Dreizehn verpasste Anrufe und sieben Nachrichten in der Mailbox! Ich mache das häufig so, dass ich mein Handy auf stumm stelle, wenn ich mich heimlich nach einem Anruf sehne, von dem ich ganz genau weiß, dass er nicht kommen wird. Ich finde, wenn man das Telefon nicht hören kann, kann man sich wenigstens einbilden, es würde klingeln. Das ist unlogisch? Ich habe eben einen ausgesprochenen Hang zur Hoffnung. Hoffen ist mein Hobby.
Noch ehe ich eine der Nachrichten abhören kann, klingelt es an meiner Tür.
«ICH HASSE ES, PÜNKTLICH ZU SEIN!»
«Der Andere ist eine Frau!»
«Was?»
«Er hat sich in eine Frau verliebt!»
«Komm erst mal rein.»
«Ich habe hunderttausend Mal aus dem Zug bei dir angerufen.»
«Du bist mit dem Zug gekommen?»
«Ja, warum?»
«So, wie du aussiehst?»
Erdal schaut an sich runter.
«Es war eine Kostümparty mit dem Motto ‹Mega-Movies›.»
«Und wen stellst du dar?»
«Bobbie. Das zweite Ich in der Schlussszene.»
«Bobby Ewing?»
«Quatsch! Bobby, der schizophrene Psychiater aus ‹Dressed to kill›.»
Erdal trägt einen weißen Krankenschwesternkittel, aus dessen Brusttasche ein blutverschmiertes Skalpell hervorlugt, dazu blickdichte fleischfarbene Strumpfhosen und weiße Turnschuhe. Seinen Kopf ziert ein Schwesternhäubchen.
«Und so wolltest du Karsten zurückerobern?»
«Die Party war schließlich kein Schönheitswettbewerb. Es waren Kreativität und cineastische Kenntnisse gefragt. Du hättest mal den Gastgeber sehen sollen. Der kam als ET.»
«Und Karsten?»
«Der hat einfach seine Polizeiuniform angezogen, einen Schlagstock umgeschnallt und behauptet, er sei Sylvester Stallone in ‹Copland›. Der Mann hat einfach keine Phantasie. Sah aber leider super aus.»
«Möchtest du Tee?»
«Nein. Alkohol. Und drei Bounty, bitte. Das beruhigt die Nerven.»
Viele Leute ziehen bei Kostümfesten das an, was sie auch sonst gerne mal tragen würden, sich aber nicht trauen. Männer tragen meistens Waffen, Frauen Strapse.
Keiner meiner Freunde hat sich jemals kostümiert. Das finde ich auch gut so, denn Männer büßen bei so was
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