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Höhenrausch (German Edition)

Höhenrausch (German Edition)

Titel: Höhenrausch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ildikó von Kürthy
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sie nie gesehen habe, hatte Doris Korn ein Gesicht, ein schönes natürlich und dennoch eine Fratze. Meine Güte, wie oft habe ich mir die andere ausgemalt und mir dabei nichts erspart, vom Sex bis zum Sonntagsspaziergang. Meine Phantasie ließ sich nicht zurückpfeifen. Küsste er sie auf die Stelle hinter dem Ohr so wie mich? Wusste sie bereits, dass er auf der Innenseite seiner Oberschenkel kitzelig ist?
    Wie oft habe ich mir Situationen vorgestellt, in denen wir uns begegnen. Situationen, die ich selbstverständlich mit einer derart natürlichen Grazie und Souveränität meistern würde, dass der frevelhafte Draco sofort alles bereuen und Doris die Dumpftorte verlassen würde. Meine Phantasien haben alle dasselbe Happy End: Draco verlässt die andere. Draco will mich zurückhaben. Aber ich will ihn nicht mehr!
     
    «Du träumst davon, dass ihr nicht mehr zusammenkommt?»
    «Richtig.»
    «Aber dann ist doch alles genau so, wie du es haben möchtest. Du hast ihn nicht mehr. Fertig ist das Happy End.»
    «Silke, ich träume davon, ihn nicht mehr zu wollen. Das ist ein großer Unterschied. Echtes Desinteresse ist die edelste und tödlichste Form der Rache.»
    «‹Rache ist die feigste Form der Trauer›», sagte meine Oma immer.»
    «Ich werde zu der Hochzeit gehen, bei der Draco Trauzeuge ist. Ich muss die andere endlich mal sehen. Vorher finde ich keinen Frieden.»
    «Bist du überhaupt eingeladen?»
    «Irgendwie ja. Die Einladung kam ja schon vor Monaten, und damals war ich als Freundin des Trauzeugen natürlich automatisch mit eingeladen. Ich werde da aber erst nach dem gesetzten Essen hingehen, wenn die Party schon voll im Gang ist.»
    «Ich halte das für eine extrem bescheuerte Idee. Draco will Doris Korn bei der Hochzeit zum ersten Mal offiziell vorstellen. Wenn du dich da als Racheengel lächerlich machst, wirst du bloß Mitleid oder Verachtung ernten. Lass es sein, Linda, ich bitte dich. Du würdest nur dir selbst wehtun. Wenn du Draco vergessen willst, darfst du ihn nicht wieder sehen.»
    «Aber ich will ihn doch gar nicht vergessen!»
    «Wäre aber besser, weil er dich vergessen hat. Du weißt genau, dass er keinen Gedanken mehr an dich verschwendet – ausgenommen seinen Ärger, dass du dich geweigert hast, den Plasmafernseher auszuliefern.»
    «Den hat er mir zu Weihnachten geschenkt! Das weiß er ganz genau!»
    «Hör auf, dich zu quälen, und halt dich endlich von deinem Exfreund fern. Das steht doch in jedem Ratgeber, den wir lesen, seit wir zwölfeinhalb sind.»
    «Ist das nicht traurig, dass ich mir mit fünfunddreißig in alten Büchern wieder heulend die Stellen durchlese, die ich mit fünfzehn unterstrichen habe?»
    «Immerhin passt du jetzt auch wieder in die Jeans, die du mit fünfzehn getragen hast.»
    «Endlich schlank, aber leider zu spät. Ich gehe also nicht zu der Hochzeit? Ich fahre nicht mehr nachts wie zufällig an seiner Wohnung vorbei, um nachzuschauen ob noch Licht brennt? Ich wechsle die Straßenseite, wenn er mir Arm in Arm mit der anderen entgegenkommt? Ich meide die Restaurants und Bars, in die er immer gern gegangen ist? Silke, ich habe nur eine Chance: Ich muss die Stadt verlassen.»
    «Copy that.»
     
    Eine Woche später war ich auf dem Weg nach Berlin.
    Man muss Berlin-Mitte schön finden wollen. Und ich war absolut dazu bereit. Schon als ich zum ersten Mal zu Andreas’ Wohnung am Prenzlauer Berg fuhr, fühlte ich mich wohl zwischen den Plattenbauten und grauen, unsanierten Häusern, die aussehen, als würde man sie gleich im Rückspiegel zusammenfallen sehen. Berlin ist eine Stadt, in der man sich nicht wie ein Verlierer vorkommt. Selbst dann nicht, wenn man einer ist.
    Man gehe mal eine halbe Stunde an der Hamburger Außenalster spazieren oder laufe die Münchner Maximilianstraße entlang: Da gehen die Leute nicht einfach, da flanieren sie. Und da huscht auch keiner mal eben im Jogginganzug beim Extra-Markt vorbei, um noch schnell eine Pizza für den Abend zu kaufen. In dem Outfit, in dem ein Mitte-Bewohner ein Restaurant besucht, würde sich der durchschnittliche Münchner nicht mal zu den Mülltonnen raustrauen.
     
    Das Beste an Berlin: Es ist allein meine Stadt. Eine Stadt ohne Erinnerungen und ohne Hoffnungen. Hier gab es weder die Angst noch den heimlichen Wunsch, um die nächste Ecke zu biegen und plötzlich vor ihm zu stehen. Nicht diese fatale Verlockung, vielleicht doch mal spontan bei ihm vorbeizuschauen, weil die Badewannenmatte mit den türkisfarbenen

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