Ich ruf dich gleich zurück.»
Ich öffne die Tür – und bin zum zweiten Mal an diesem Tag fassungslos.
«Hallo, Kleines!»
Johann Berger hat in der einen Hand eine rote langstielige Rose, in der anderen eine Flasche Rosé-Champagner.
«Ich bin einen Tag früher nach Berlin gekommen. Sehnsucht nennt man so was wohl. Aber sag mal, wie siehst du denn aus? Hat es bei dir gebrannt?»
Ich schaffe es gerade noch zu denken, dass so was doch normalerweise normalen Leuten unter normalen Umständen nicht passiert. Dann höre ich Dracos Stimme näher kommen.
«Schätzchen, du hast mich wohl doch mehr vermisst, als du zugeben willst. Guck mal, was ich im Backofen gefunden habe. Ich finde allerdings, dass dem Kerl etwas ganz Entscheidendes fehlt.»
Es ist, als hätte jemand beim Videogucken während der allerentsetzlichsten Szene auf «Standbild» gedrückt:
Johann Berger steht im dunklen Dreiteiler in der Wohnungstür.
Und Draco steht nackt im Flur – nur unzureichend verdeckt vom Kissen «Halber Mann».
Von: Linda Schumann
Betreff: Dinner for One
Datum: 31. Dezember 17 : 25 MESZ
An:
[email protected] Lieber Andreas,
ich bin wie meist um diese Zeit etwas wehmütig gestimmt. Das Jahr liegt in den letzten Zügen, ich weiß nicht, was ich anziehen soll, und im Fernsehen läuft «Dinner for One».
Was finden die Leute eigentlich so lustig daran? Mir kam es immer schon traurig und tragisch vor, wie die alte Dame, die all ihre Freunde und Liebhaber überlebt hat, versucht, sich von ihrer Einsamkeit abzulenken mit Hilfe eines stetig betrunkener werdenden Angestellten.
Womit wir schon wieder bei deinem Lieblingsthema wären, du Meister der Ablenkungsmanöver: Was wirst du heute tun, um nicht zu spüren, dass du einsam bist? Wirst du den Abend wieder mit einer Thunfischpizza in jedem Arm verbringen?
Oder bist du gar nicht mehr einsam, weil du deinen Kummer so lange nicht beachtet hast, bis es ihm bei dir zu langweilig wurde?
Du gehst deinen Weg konsequent:
Trennung.
Kummer.
Noch mehr Kummer.
Neubeginn.
Das nenne ich ergebnisorientierte Verarbeitung. Kompliment. Ich wünschte, ich wäre so diszipliniert wie du. Ich habe mich bloß ausgezeichnet durch die konsequente Nichtbefolgung aller mir erteilten Ratschläge. Ich habe jeden Umweg genommen, der sich bot, und alle Dummheiten gemacht, die man nur machen kann. Aber ist ein zuverlässig stattfindendes Chaos nicht auch eine Form von Ordnung?
Weißt du, was mir in den letzten Wochen aufgefallen ist? Wie das bittere Gefühl, einsam zu sein, blitzschnell umschlagen kann in das süße Gefühl, unabhängig zu sein.
Ich habe an deinem Küchentisch so verdammt viele traurige Nächte verbracht. Und ebenso viele tolle. Langweilig war mir nie, ausgeglichen war ich nie. Ich habe mich immer großartig gefühlt, großartig gut oder großartig schlecht.
Schade, dass es nicht so bleiben kann, denke ich manchmal. Irgendwann ist alles wieder normal. Ist es nicht verrückt, dass ich jetzt schon weiß, dass mir dann manches Mal sogar meine Einsamkeit fehlen wird?
Hab einen schönen Abend, lieber Andreas, was immer du tust. Und falls dir niemand Besseres einfällt, an den du um Mitternacht denken könntest, denk doch einfach an mich.
Herzlich
Deine Linda
«KENNEN WIR UNS?»
Noch zwanzig Minuten! Dann ist dieses bemerkenswerte Jahr zu Ende. Ist es ein Happy End? Ach, irgendwie schon. Ich habe mich jedenfalls richtig verhalten. Und das ist für jemanden wie mich ziemlich außergewöhnlich. Zum Schluss war ich schließlich doch noch vernünftig.
Erdal wird enttäuscht sein. Seine Mutter wird sagen, dass Unvernunft jung hält. Und Andreas? Der wird sagen, dass er es ja schon immer gewusst hat.
Ich bin nicht gerade euphorisch. Natürlich nicht. Vernünftig ist ja auch das Gegenteil von euphorisch.
Berlin macht sich bereit. Eine Anspannung wie Sekunden vor dem Startschuss zu einem Hundert-Meter-Sprint.
Ich muss sagen, dass ich kein großer Freund von Silvester bin. Der Jahreswechsel macht mich nervös. Ich hasse den Druck, dass Silvester toll, ausgelassen und erinnerungswürdig sein muss. Wie soll denn das Jahr gut werden, wenn es nicht gut angefangen hat?
Du bist bis zum letzten Moment damit beschäftigt, eine Einladung für die Party zu ergattern, die den größten Bedeutungsfaktor verspricht. Du telefonierst noch am Nachmittag des Einunddreißigsten panisch mit deinen Freundinnen: verdammt, wohin? Und verdammt, wohin danach? Zwischendurch immer wieder der