Hoehepunkte der Antike
Apollon zwei extreme Positionen ab: einerseits Tod und Schrecken, andererseits unantastbare Reinheit. Apollon galt
nicht nur als der Urheber von Seuchen, sondern auch als derjenige, der den Rat gab, wie sie zu überwinden seien.
|27| Wer vom delphischen Orakel eine Antwort suchte, musste sich in der Kastalischen Quelle reinigen und außerhalb des Tempels
ein Opfer darbringen. Danach geleitete ein Priester den Klienten in den Tempel, wo die Orakelgebühr, der
Pelanos
, zu zahlen war. Erst nach einem zweiten Opfer durfte der Klient das
Adyton
, das Innere des Tempels, betreten. Im
Adyton
saß auch, möglicherweise von den Klienten durch einen Vorhang getrennt, die Pythia, die prophetische Seherin; sie galt als
das Instrument Apollons, durch das er sich den Menschen mitteilte. Die Pythia stammte aus dem Ort Delphi und musste ein keusches
Leben führen; da der Andrang bisweilen groß war, fungierten zeitweise zwei Priesterinnen gleichzeitig als Pythia, eine dritte
hielt sich als Ersatz bereit. Vor einer Orakelsitzung reinigte sich die Pythia kultisch durch ein Bad in der Kastalischen
Quelle sowie durch Trinken vom Wasser der anderen berühmten delphischen Quelle, der Kassotischen Quelle. Im Inneren des Tempels
brachte die Priesterin ein Räucheropfer aus Lorbeerzweigen dar und setzte sich auf den Dreifuß. Bis zu diesem Punkt gibt es
kaum Probleme bei der Rekonstruktion der Vorgänge. Der eigentliche Akt der Weissagung hingegen ist mit zahlreichen Fragezeichen
zu versehen: Kein antiker Autor bietet eine genaue Beschreibung; auch über andere Orakel der griechischen Welt schweigen die
Quellen.
Die Vorstellungen über das Orakel von Delphi sind geprägt von Orakelsprüchen, die keine Historizität beanspruchen können.
Zu den bekanntesten Orakeln gehören die Sprüche, die der Lyderkönig Kroisos (etwa 560–547 v. Chr.) erhielt. Die Beziehung
zwischen Kroisos und Delphi beginnt damit, dass Kroisos herausfinden wollte, welche der zahlreichen Orakelstätten der bekannten
Welt zuverlässig seien. Er schickte Gesandtschaften zu den Apollonorakeln von Delphi, Abai und Didyma, zum Zeusorakel von
Dodona, zum Ammonorakel der Oase Siwa in Libyen sowie nach Oropos, wo Amphiaraos weissagte, und zum Orakel des Trophonios
in Lebadeia. Kroisos wollte von den sieben konkurrierenden Orakelstätten wissen, was er gerade zu einem bestimmten Zeitpunkt
tue; dazu ließ er alle Gesandtschaften am selben Tag und zur selben Stunde dieselbe Frage stellen. Aus Delphi erhielt Kroisos
den folgenden Spruch:
Ich kenne die Zahl der Sandkörner und die Menge des Meeres, ich verstehe den Stummen und höre den, der nichts sagt. Den Duft
der |28| stark gepanzerten Schildkröte nahm ich wahr, die gekocht wird im Bronzegeschirr zusammen mit Lammfleisch, darunter ist Bronze
gebreitet, Bronze liegt oben darauf.
(Herodot 1,47)
Dies war die zutreffende Antwort, da Kroisos im Moment der Anfrage eine Schildkröte und ein Lamm in einem Bronzekessel kochte,
den er mit einem Bronzedeckel verschlossen hatte. Neben Delphi lieferte nur das Orakel von Oropos die eine richtige Antwort.
Das Verhältnis zwischen Kroisos und Delphi, über das vor allem Herodot berichtet, ist mit märchenhaften Episoden angereichert.
Doch wie sieht es mit Orakelsprüchen aus, deren Überlieferung besser gesichert ist? Nehmen wir als Beispiel Xenophon, der
auf Anraten seines Lehrers Sokrates 401 v. Chr. in Delphi in einer Privatsache anfragte. Xenophon schrieb selbst darüber,
allerdings ohne die geringste Notiz über das Procedere oder die Pythia. Es heißt lediglich – Xenophon schrieb von sich in
der dritten Person: „Dort befragte also Xenophon Apollon …“ und „Apollon verkündete ihm …“ (Xenophon,
Anabasis
3,1,6). Diese Formulierungen erwecken den Anschein, als wolle Xenophon elegant über die Art und Weise der Befragung hinweggehen.
Auch andere Quellen berichten kaum mehr als Xenophon. Was an angeblichen Details über die Vorgänge im Inneren des delphischen
Tempels referiert wird, ist meist fragwürdig. So wurde bereits in der Antike die Pythia als Seherin verstanden, die ihre Orakelsprüche
in mantischer Trance erteilte. Man vermutete, die Pythia gerate durch das Kauen von Lorbeerblättern in Trance. Befragt man
nun ein medizinisches Handbuch, so besitzen weder Blatt noch Frucht des Lorbeers toxische Wirkung. Die Lösung kann nicht in
einer naturwissenschaftlichen Erklärung liegen. Vielmehr ist der
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