Hoehepunkte der Antike
Auswirkungen begrenzbar, |68| wenn die Menschen ihre unterschiedlichen Auffassungen von der Welt und ihren Pflichten nicht auf die Spitze trieben. Der Mensch
soll vielmehr seine Entscheidungen reflektieren, bevor er sie kompromisslos in die Tat umsetzt, gerade weil er wie kein anderes
Lebewesen zu so weit reichenden Entschlüssen und Handlungen in der Lage ist.
So tiefsinnig diese Botschaft ist – auch sie befriedigt nicht wirklich. Gibt es kein Maß und keine sichere Instanz, an die
sich der Mensch halten kann, wenn er im Zweifel und in Sorge über mögliche Risiken seiner Handlungen ist? Euripides, der letzte
der drei Tragiker, hat genau diese Fragen traktiert und die Zuhörer meist ratlos zurückgelassen. Noch ratloser wurden sie,
als alle Selbstreflexion die sich häufenden militärischen Niederlagen ihrer Admiräle nicht verhindern konnte und die Stadt
im Jahr 403 v. Chr. gegen den ewigen Rivalen Sparta kapitulieren musste. Die Wut richtete sich jetzt gegen die Sophisten,
die ihnen weismachen wollten, dass der Mensch im Vertrauen auf seine Fähigkeiten Berge versetzen könne und im großen Spiel
der Macht nur die nackte Gewalt zähle. Aber auch die Antworten der Geschichtsschreibung verfingen nicht mehr: Herodot meinte,
der Freiheitswille der Athener habe die Siege über die Perser ermöglicht; warum musste man sich jetzt aber den Spartanern
beugen, deren Staat viel schwächer war als der der Perser und weniger Freiheitsmerkmale aufwies als die Demokratie der Athener?
Selbstreflexion à la Sokrates
In dieser allgemeinen Unsicherheit schlug die Stunde eines Mannes, dessen Äußeres gar nicht dem Ideal des Erfolgreichen entsprach,
aber gerade dadurch so große Wirkung zumal bei der Jugend erzielte: Sokrates. Seine Knollennase und sein hässlicher Schädel
waren wie sein entenartiger Watschelgang Zielscheibe des Spotts. Doch all dies störte den Mann nicht, sein Auftreten war von
einer Eigenschaft geprägt, die die Griechen
autarkeia
nannten: unabhängig von äußerem Beifall, dennoch einem klaren Konzept und einem selbst gesteckten Ziel folgend. Sein Rat an
die verunsicherten Athener lautete: Der Mensch solle sich nicht von kurzfristigen äußeren Erfolgen blenden lassen, sondern
müsse sich darüber klar werden, was gut oder schlecht sei, um sichere Entscheidungen zu treffen. Um die Fähigkeit zu erlangen,
richtige Entscheidungen |69| zu treffen, müsse man jenseits der alltäglichen und materiellen Güter sowie religiöser Zwänge den Kern der Dinge erkennen.
Sokrates demonstrierte dies durch eine besondere Art des Dialogs, der zwischenzeitlich das Scheinwissen des Gesprächspartners
bloßstellte, um ihn dann – gewissermaßen gereinigt – zur wahren Erkenntnis zu führen. Für viele Athener war diese neue Art
des Fragens und Antwortens in der Zeit nach der Niederlage gegen Sparta zu radikal, und Sokrates hat wenig getan, um das provozierende
Potenzial seiner Thesen zu mildern. So wurde er von den Athenern mit einer gehörigen Portion Mitschuld zum Tode verurteilt.
Verstanden hatten sein Anliegen ohnehin nur wenige. Zu ihnen gehörte sein Schüler Platon. Er erkannte in Sokrates den Schöpfer
der Ethik und entwickelte seine Gedanken weiter zu dem großen System der vier Kardinaltugenden. Sie setzen eine Vollkommenheit
voraus, die es in der Realität nach Sokrates nicht gab. Diese Vollkommenheit machte Platon zum Richtmaß des menschlichen Lebens.
An ihr hatte jede Seele vor der Geburt Anteil, und es geht nun darum, die Erinnerung der Seele durch konsequente Unterweisung
des Menschen schrittweise wieder wachzurufen und den Menschen durch die Reflexion des Denkens auf sein wahres Wesen zurückzuverweisen.
Zu diesem Zweck gründete Platon in einem Park des Heros Akademos eine eigene Schule, von der unser Begriff Akademie abgeleitet
ist. Es ist eine Zeit, in der Athen sich längst von der Niederlage gegen Sparta erholt, die Demokratie wiederhergestellt und
der Piräus sich als Welthafen etabliert hatte. Wie nun erneut fremde Händler und Künstler aus aller Herren Länder in den Hafen
strömten, so kamen Schüler aus aller Welt in die Akademie, um unentgeltlich den Unterweisungen des Meisters zu lauschen. Sie
genossen eine breite Fachbildung, die sie befähigen sollte, nach den Vorstellungen des Sokrates ein erfolgreiches und glückliches
Leben zu führen. Die Götter spielten dabei eine untergeordnete, ihrer menschlichen Gestalt
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