Hoehepunkte der Antike
entkleidete Rolle; sie waren eine
immaterielle Kraft, die über der realen Welt stehe; Platons berühmtester Schüler Aristoteles nannte diese göttliche Kraft
den ,unbewegten Beweger‘.
Platon hatte damit die Forderung der Sophisten nach allseitiger Belehrung des Menschen auf einen ethischen Gehalt konzentriert
und in eine neue Weltsicht eingebunden. Diese Welt zu erkunden und die Bildung des Menschen an ethischen Konzepten zu orientieren,
war die |70| zeitlose Botschaft, die am Ende des großen Zeitalters Athens steht. Sie war wohl nur hier möglich, wo Selbstbewusstsein und
Selbstzweifel zur Selbstreflexion führten und die Fähigkeit schufen, die Welt immer wieder in Frage zu stellen. Das ist die
entscheidende Hinterlassenschaft Athens – nicht ihre Demokratie, die sich aller Beschwörungsversuche zum Trotz von der modernen
weitaus stärker unterscheidet als die oligarchischen Verfassungen der Antike.
Der in seiner Form einmalige kulturelle Anspruch Athens eröffnet denn auch bis heute, losgelöst von Raum und Zeit, zukunftsweisende
Perspektiven deshalb, weil er nicht nur aus strahlenden Erfolgen, sondern auch aus selbstverschuldeten Niederlagen geboren
wurde. Was wundert es da, wenn optimistische Politiker dem ausgemergelten und desorientierten Deutschen im Jahr 1946 vorschlugen,
eine neue „Schule von Athen“ im Herzen des europäischen Kontinents zu gründen. Als geeignet unter vielen Orten erschien ihnen
Sonthofen oder Prora an der Binzer Bucht in Rügen.
Jenseits dieser skurrilen Ideen lebt Athen weiter in fast allen Teilen der Welt, und zwar nicht nur als oberflächliche Chiffre
westlicher Zivilisation oder Anziehungspunkt kulturbeflissener Touristen. Die großen Tragödien Athens sind heute auf den Bühnen
der Welt präsenter als im 19. Jahrhundert, und die innovativsten Inszenierungen stammen inzwischen aus Japan. Kein moderner
Philosoph, der sich nicht in irgendeiner Form auf Platon bezieht oder sich mit ihm auseinander zu setzen hat. Keine wissenschaftliche
Akademie, die sich nicht ihres geistigen Ursprungsorts bewusst wäre. Und überall begleitet auch der Parthenon den modernen
Bürger auf Schritt und Tritt, spätestens dann, wenn er in einer der westlichen Hauptstädte die Fassaden der Nationaltheater
und Großbanken bestaunt. So war denn eine der wenigen weisen Entschlüsse des Europäischen Rates nur folgerichtig, als er 1985
Athen zur ersten Kulturhauptstadt Europas erklärte.
Bei all den wohlfeilen Lobeshymnen besitzt jedoch das Athener Erbe eine Zwiespältigkeit, die dem Westen wenig Anlass bietet
zur behaglichen Selbstzufriedenheit: Athena lächelt nicht nur als holde Kulturgöttin durch die Zeiten, sondern beschützt ihre
Stadt – anders als der lichtvolle Apollon – im schweren Kriegsornat und mit goldverzierter Lanze: Die Idee martialischer Seemacht,
die Athen im Namen der Demokratie und im Schatten der Akropolis entwickelte, übt noch heute eine ungebrochene |71| Faszination aus gerade auf die Staaten, die sich – wie einst die Athener – gegenüber dem Rest der Welt als Vorreiter von Demokratie
und Kultur verstehen. Ob auch sie die athenische Kunst der Selbstreflexion erfasst, bleibt abzuwarten.
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|72| Im phrygischen Hochland: Alexander und der Gordische Knoten
KATHARINA WEGGEN
Es ist wirklich merkwürdig, nicht? Da setzt sich jemand auf die Hosen und bringt mit viel Fleiß, Gescheitheit und Geschick
einen Knoten zustande, der so raffniert geschlungen ist, daß ihn kein Mensch auf der Welt auf knüppern kann, und den, der
das Kunststück fertigbrachte, hat uns die Geschichte nicht überliefert! Aber wer das Taschenmesser herauszog, das wissen wir
natürlich!
Dass Alexander der Große natürlich kein Taschenmesser zog und es auch eine andere Überlieferung vom Umgang des Makedonenkönigs
mit dem Gordischen Knoten gegeben hat, die nicht sprichwörtlich geworden ist, da zu langweilig, das verschweigt uns Erich
Kästner in seinem kleinen Aufsatz
Über den Nachruhm
(
Gesammelte Schriften
V, Köln 1959, 66). Wir indes wollen der Frage nachgehen, was genau sich im Frühjahr des Jahres 333 v. Chr. im phrygischen
Hochland abgespielt haben könnte.
In den väterlichen Fußstapfen und weiter
Als Alexander im besagten Jahr Gordion, die Hauptstadt des alten phrygischen Reiches, betrat, konnte man von ihm wohl noch
nicht als dem Großen sprechen. Erst zwanzig Jahre alt, war er 336 v. Chr. nach der
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