Hoehepunkte der Antike
ihrer Götter gewiss waren und ohne diese Gewissheit keinen Krieg
begannen, waren die Griechen und speziell die Athener von Zweifeln geplagt, weil sie dem Schicksal sowie dem autonomen Handeln
des Individuums größeren Einfluss zumaßen als dem Eingebundensein des Menschen in einen stabilisierenden religiösen Kontext:
Gerade die Schlacht bei Salamis und der Einsatz der Kriegsschiffe – daran zweifelte niemand – waren bei allem göttlichen Wohlwollen
auch das Ergebnis technischer Fähigkeiten und strategischer Intelligenz. Was aber, wenn Intelligenz und Technik einmal versagten?
Hatte nicht zudem die Vergangenheit gezeigt, dass Athen sich immer wieder feindlicher Invasionsversuche erwehren musste?
Nervosität und Selbstzweifel nagten daher an den Athenern auch in den Stunden ihrer größten Erfolge. Selbstbewusstsein evozierte
Selbstreflexion. Und die Selbstreflexion war keine Privatsache, sondern wurde öffentlich inszeniert. Diese Fähigkeit zur kollektiven
Selbstreflexion war anspruchsvoll und gehörte zu den kulturell fruchtbarsten Charaktereigenschaften der Athener. Denn gerade
ihre außergewöhnlichen Erfolge zwangen sie, auch außergewöhnliche Strategien zu entwickeln, um mit dem Selbstzweifel umzugehen.
Eine Methode war ihre geradezu sprichwörtliche „Geschäftigkeit“: Solange jeder Bürger einen Großteil seiner „Freizeit“ als
Ratsmitglied, Richter oder Teilnehmer der Volksversammlung verbrachte, mochten Gedanken über Schicksalsschläge gar nicht auf
kommen. Doch immer wieder gönnten sich die |65| Athener Ruhepunkte, um sich – wie Perikles sagte – von dieser Geschäftigkeit zu erholen. Diese Ruhepunkte waren die beste
Gelegenheit, die Sorgen des Erfolgs gemeinsam zu bewältigen.
Traditionell hatte der Mythos den Griechen Erklärungen für die großen Fragen der Welt und der menschlichen Natur geboten.
Diese Funktion des Mythos blieb auch im so „modernen“ Zeitalter der Athener erhalten, nur wurde er zum Logos, der rationalen
Vernunft, in ein neues Verhältnis gebracht: Wenn der Logos allein keine befriedigenden Erklärungen und Prognosen geben konnte,
dann bot der Mythos die Möglichkeit, reale Sorgen in der Form eines „mythischen Szenarios“ durchzuspielen. Das Medium für
diese Art der Welt- und Selbstreflexion war die Tragödie, von allen Künsten die ureigenste Erfindung der Athener und ihre
bedeutendste geistige Hinterlassenschaft.
Schon das erste große Stück, die 471 v. Chr. uraufgeführten Perser des Aischylos, zeigt die außergewöhnliche Fähigkeit der
Tragiker, Probleme und Ereignisse intellektuell zu durchdringen, auch wenn es ausnahmsweise die Zeitgeschichte – nicht den
Mythos – behandelt: Aischylos entführt die Zuschauer an den Hof des Perserkönigs in Susa. Hier am Grab des ehrwürdigen Regenten
Dareios wartet die Königsmutter Atossa auf Nachrichten vom Ausgang des Feldzuges, den ihr Sohn Xerxes 480/79 v. Chr. gegen
Griechenland führte. Schließlich bringt ein Bote das Unfassbare: Die persische Flotte wurde bei Salamis geschlagen und Xerxes
ist auf der Flucht. Die erschütterte Atossa sucht nach Erklärungen, ihre Ratgeber sind ratlos, bis ihr der Geist ihres verstorbenen
Mannes erscheint. Er weist auf die schwierige Versorgungslage des persischen Heeres hin und nennt die widrigen topographischen
Verhältnisse am Sund von Salamis. Doch der entscheidende Grund liegt in einer Charaktereigenschaft des Xerxes selbst: Seine
Überheblichkeit, seine Hybris, habe ihm nicht nur die Fähigkeit zum kühlen Abwägen seiner Möglichkeiten genommen, noch viel
schlimmer – er habe durch seinen Entschluss, Asien zu verlassen und Europa zu erobern, gegen die von den Göttern festgelegte
Weltordnung verstoßen. Die Strafe für diesen Frevel konnte nicht ausbleiben, und so muss Atossa die fürchterlichste Niederlage
der Perser verkraften.
Warum interessiert sich Aischylos aber überhaupt so für die Perser? Offensichtlich deshalb, weil er an ihnen ein allgemein
menschliches Problem durchspielen möchte, von dem die Athener zwar im historischen |66| Kontext der Perserkriege selbst nicht betroffen waren, das aber nun in den 70er-Jahren des 5. vorchristlichen Jahrhunderts
für sie brisant wurde: Athen war auf dem Wege zu einer Supermacht im Kleinformat, und auch die Athener Feldherren und Politiker
waren deshalb wie der große Xerxes nicht vor der Gefahr der Selbstüberschätzung und des Hochmuts
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