Höhlenwelt-Saga 02 - Leandras Schwur
wenn er sie nicht gar für den Rest ihres Lebens begleitete. Leandra war noch ein bisschen müde, und da der Morgen erst angebrochen war, schloss sie ebenfalls wieder die Augen. Sanft trieb sie in den Schlaf davon.
Sie träumte von Victor.
Er ritt auf einem großen, grauen Felsdrachen und schrie ihr durch den Wind seine Begeisterung zu. Dann merkte sie, dass sie selbst auf einem Drachen saß. Das Tier wandte im Flug seinen Kopf zur Seite und sie sah, dass es der Drache war, auf dem sie damals den Mogellwald überquert hatte. Weit vor ihr war noch ein Drache zu sehen, und sie erkannte auf seinem Rücken Munuel, der ihr zuwinkte. Unter ihnen zog die endlose Weite eines dunklen Waldes dahin. Es war seltsam still. Dann merkte sie, dass der Wald in Richtung des Horizonts immer dunkler wurde, bis er sich schließlich zu einer gewaltigen, schwarzen Wand erhob, die so wirkte, als markiere sie das Ende der Welt. Sie bekam plötzlich Angst. Ein Blick zu Victor sagte ihr, dass auch er die schwarze Wand anstarrte, die sich immer gewaltiger vor ihnen erhob. Dann schälte sich dort ein Schatten heraus; ein Schatten, der noch schwärzer war als die Wand selbst. Der Schatten wurde zu einer Form - der Form eines Drachen, der größer war als der größte Drache, den sie sich vorstellen konnte. Die Ränder seiner zahllosen schwarzen Schuppen reflektierten weiß-violettes Licht, das auf unnennbare Weise aus der schwarzen Wand hervordrang. Leandra fühlte eine hilflose Angst in sich aufsteigen. Der Drache war wild und böse und schien übermächtige Magie auszustrahlen. Hinter ihm wurde eine Spur aus dunkelroter Glut sichtbar, mit der er durch den Himmel zog. Dann sah sie das Gesicht des Untieres und sie verkrampfte sich, konnte sich nicht mehr bewegen; sie war dem Flug ihres eigenen Drachen, der die drohende Gefahr offenbar nicht wahrnehmen konnte, hilflos ausgeliefert. Das Drachengesicht des fremden schwarzen Monstrums zeigte die Züge von Chast.
Aber das war nicht das Schlimmste. Sehr spät erst wurde ihr klar, dass dieser Chast-Drache ebenfalls einen Reiter besaß, und als sie dieses namenlose Wesen erblickte, schrie sie im Traum auf. Es war ein krötenähnliches Tier, mit stumpfen, kalt und grausam dreinblickenden Augen, und es starrte sie an - so als gebe es nichts anderes auf der Welt. Das Tier hatte menschenähnliche Formen und seine Arme und Beine waren mit scharfkantigen Hornkämmen besetzt. Die Winkel seines ledrigen Maules besaßen jene scheußliche, nach unten verlaufende Krümmung eines uralten Mannes, der der Welt nur noch mit Abscheu und Hohn gegenübertrat, und mit jeder Sekunde verstärkte sich der Eindruck, dass dieses abgrundtief hässliche Krötengesicht irgendwie menschlich war. Der Ausdruck der Verächtlichkeit und Geringschätzung gegenüber allem Menschlichen war das Unerträglichste an diesem Gesicht; selbst der heiße, leidenschaftliche Zorn des chast-ähnlichen Drachengesichtes war dagegen wie eine Wohltat. Leandra glaubte den modrigen Gestank der Fäulnis und Verrottung wahrnehmen zu können, den dieses Wesen wie eine Aura um sich verbreitete, und sie wusste, dass nichts auf der Welt einem solchen Gesicht auch nur die mindeste menschliche Regung entlocken konnte; nicht das Lächeln eines Kindes, nicht der Anblick einer Wiese voller bunter Blumen oder die Schönheit des Abendlichtes auf den Weiten des grün schimmernden Akeanos.
Übelkeit kroch ihr aus dem Magen herauf ... aber dann plötzlich stach ein Speer in die Szene hinein, ein Speer wie der Zauber einer unverbrüchlichen Gutartigkeit, und nahm der furchtbaren Krötenfratze ihren Schrecken. Dann erwachte sie wieder.
Sie hätte beinahe aufgeschrien, als sie spürte, dass jemand bei ihr war - dann merkte sie, dass es Ulfa war. Aufatmend sank sie zurück. Der kleine Drache hatte sich irgendwie unter ihre Schlafdecke gewunden und schmiegte sich an sie. Leandra wurde klar, dass er ihren Albtraum vertrieben haben musste. Seine sonst so kühle Berührung hatte sich erstaunlicherweise in Hitze verwandelt, und sie fühlte, dass er gekommen war, um sie zu wärmen. Dankbar über seine Gegenwart rollte sie sich zusammen und schlief, einigermaßen beruhigt, wieder ein.
Am späten Nachmittag fanden sie den Einstieg. Sie hatten ununterbrochen gesucht, und Leandra hätte sich gewünscht, dass Ulfa ihnen half. Dieser aber begleitete sie nur - wie auch der neugierig schnüffelnde Benni. Sie staunte zuerst, dass der Hund keinerlei Anstalten machte, den kleinen
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