Höhlenwelt-Saga 02 - Leandras Schwur
befanden sie sich schon weit draußen und hoch über dem Meer und der Drache ging in ruhigen Gleitflug über.
Ihr stieg der Magen in die Kehle, als sie nach unten sah, aber im nächsten Augenblick legte ihr Victor den Arm fest über die Schulter und drücke sie an sich. Das beruhigte sie ein wenig, sodass sie ihre Angst verdrängen konnte und mutig hinabblickte.
Es war ein unglaublicher Anblick. Ganz etwas anderes, als nur vom Drachenhorst hinab auf das Meer zu sehen. Um sie herum herrschte in alle Richtungen eine nie gekannte Weite. Das Meer lag blaugrün und ruhig unter ihnen, von unzähligen winzigen Wellen gesprenkelt, sodass es wie ein fein gewebtes Tuch aus weicher Seide wirkte. Dort, wo die hellen Strahlen der Sonnenfenster auf das Wasser trafen, glitzerte es silbern. Weit vor ihnen ragte die monumentale Gruppe der Stützpfeiler in den Himmel hinein, und rechts konnte Roya die lange Reihe der südakranischen Hügel erkennen, die sich entlang der Küstenlinie bis nach Usmar zog.
Der Wind pfiff gehörig, war aber zum Glück nicht allzu kalt.
»Na?«, rief ihr Victor ins Ohr. »Ist das nicht unglaublich?«
Sie nickte eifrig und klammerte sich an ihn. Ja, das war wirklich ein ungeheures Erlebnis. »Ich wusste nicht, dass die Welt von oben so aussieht!«, rief sie zurück.
Dann ging der Drache tiefer und beschrieb einen sanften Bogen in Richtung der Hügelkette an der Küste. Sie flogen wohl fünfmal so schnell, wie das schnellste Pferd hätte galoppieren können - genau konnte sie das nicht einschätzen. Kurz schoss etwas unter ihnen vorbei; Roya fragte sich, ob es ein anderer Drache gewesen sei, aber es war eigentlich viel zu klein gewesen. Dann glitt zuerst der Savalgorer Stützpfeiler und dann der von Torgard ins Blickfeld. Roya stieß einen überraschten Laut aus, als sich rechts unter ihnen die Stadt Savalgor ausbreitete, wohl schon an die drei Meilen entfernt.
Auch Victor war fasziniert. Der Anblick der gewaltigen Zahl dieser typischen, turmartigen Savalgorer Häuser war kaum beschreibbar; sie wirkten wie ein Meer von buntem, unregelmäßig verteiltem Graupel, mit dunkel- und hellroten Hütchen. Wie ein fein gesponnenes Netz zogen sich Straßen und Gassen zwischen ihnen hindurch, hier und da waren kleine, hellgraue Tupfen von Plätzen zu sehen, und an die Spitze des überraschend hoch aufstrebenden Turmes der Stürme, der die Kuppel der Cambrischen Basilika überragte, hatte sich ein winziges Wölkchen geheftet - offenbar abtrünnig von einem anderen kleinen Wolkenfeld, das sich oberhalb der Stadt an den Stützpfeiler schmiegte. Sie konnten von oben auf die Wolken blicken, und ihre ungewohnte, blendende Weiße machte ihnen auf geheimnisvolle Weise die Einzigartigkeit ihres Blickwinkels klar: Von hier oben bekam nur einer unter Zehntausend jemals die Welt zu Gesicht.
Aber es gab eine Sache, die bei all dem Zauber entsetzlich störend war: Roya konnte bei jedem Flugmanöver mitverfolgen, wie Scolar dem Drachen seine Befehle ins Hirn trieb. Sie beugte sich nahe zu Victors Ohr.
»Bekommst du das mit?«, fragte sie mit verhaltener Stimme. »Wie er den Drachen kommandiert?«
Victor nickte.
Sie sah ihn fragend an.
»Es geht auch anders«, gab er zurück. »Man muss die Tiere nicht so misshandeln. Eine einfache Bitte genügt.«
Sie zögerte. »Aber ... angenommen, wir werden den Kerl los ... wie willst du den Block lösen, den der Drache im Hirn hat? Und ihn dann lenken?«
Victor sah sie eine Weile ernst an. Dann schnaufte er angespannt und sah wieder nach vorn. »Ja«, gab er zu. »Das habe ich mir viel zu einfach vorgestellt.« Er schwieg eine Weile, während sein Gesicht sich immer mehr verfinsterte. »Möglicherweise habe ich einen schlimmen Fehler gemacht.«
Roya spürte, wie sie neue Angst beschlich. Diesen Scolar da vorn hinterrücks zu ermorden war eine ekelhafte Sache, so widerlich der Kerl auch sein mochte. Wenn es überhaupt gelang. Sie bezweifelte, dass sie die Kaltblütigkeit dazu aufbringen konnte.
»Denkst du, du könntest den Block lösen?«, fragte Victor nach einer Weile.
»Ich zerbreche mir schon die ganze Zeit den Kopf«, antwortete sie leise. »Ich weiß es leider nicht.«
Dann überquerten sie die Küstenlinie, in etwa zwei Meilen Höhe, wie sie schätzte. Sie wünschte sich, mehr Sinn für den Zauber dieses Fluges aufbringen zu können, aber ihr wurde immer elender zumute. Langsam stellte sie sich darauf ein, dass sie wohl in Hegmafor ankommen würden - obwohl ihre Pläne
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