Höhlenwelt-Saga 4 - Das magische Siegel
Abendlicht durchfluteten Raum über den Wolken. Ein großes, lang gestrecktes
Sonnenfenster zog sich über ihnen nach Nordosten.
Leandra ließ sich zurücksinken und lehnte sich an Victor, der sie
von hinten umarmte. Überall um sie herum stießen andere Drachen durch die Wolken hindurch. Es war ein fast berauschender
Moment, der etwas von Unendlichkeit und Zeitlosigkeit in sich
trug. Leandra spürte Erleichterung, aber auch eine gewisse
Schwermut, denn dieser schöne Eindruck war nur allzu kurz bemessen. Victor drückte sie fest an sich. Die Luft war deutlich
wärmer geworden und all das schlechte Wetter lag nun unter ihnen. Man konnte mächtige Stützpfeiler glasklar bis in weite Entfernungen erkennen, und überall dort, wo sich Sonnenfenster
befanden, ruhten riesige, helle Lichtflecken auf der Wolkendecke.
Die Welt hier oben, im hohen Reich der Drachen, bot immer wieder neue, erhebende Anblicke.
Wie findest du den großen Stützpfeiler dort nordwestlich von
uns?, vernahm sie eine Stimme, die irgendwo aus dem Nichts zu
ihr drang.
Verwundert wandte sie sich um. Quendras blickte zu ihr herüber. Nein, er hatte nicht gerufen, sondern seine Stimme war über
das Trivocum zu ihr gelangt.
Sie hörte so etwas wie ein verzerrtes Lachen und anschließend
die Worte: Warum sollten wir untereinander nicht auch so reden
wie die Drachen?
Es ist überhaupt nicht schwierig! Versuch es selbst!
Leandra zögerte. Sie verspürte eine gewisse Neugier, es tatsächlich einmal zu versuchen. Doch es gab ein Gesetz im Gildenkodex, das jedem Magier verbot, seine magischen Sinne zu benutzen, um >in den Köpfen anderer herumzuforschen<. Aus diesem Grund gab es in der Elementarmagie nicht einmal magische
Schlüssel für so etwas. Wäre dieser Weg frei, könnte jeder Magier
nach Belieben in den Gedanken anderer Menschen lesen. Nein!
sagte sie sich, das durfte nicht sein.
»Was hast du?«, fragte Victor.
Leandra erklärte es ihm, aber er fand den Gedanken nicht weiter schlimm. »Forsch ruhig in meinem Kopf nach!«, erklärte er
leichthin. »Du wirst sehen, dass ich dich wirklich liebe!«
Sie langte nach hinten und klopfte mit dem Knöchel leicht gegen seine Stirn. »Denk nach, du tumbes Mannsbild!«, sagte sie
tadelnd. »Was, wenn Alina Magierin wäre und in deinen Schädel
gucken könnte, ob du sie überhaupt willst – und du könntest es
im Gegenzug nicht! Würde dir das gefallen?«
Victor drehte auch diese Frage so, dass sie ihm passte. »Das
wäre genau das Richtige«, erwiderte er. »Sie soll ruhig wissen,
dass ich sie nicht will. Und ob sie mich will, interessiert mich
nicht!«
Leandra stöhnte.
»Die Drachen tun es doch auch! Warum nicht wir?«
»Bei ihnen ist das etwas anderes. Es ist einfach ihre Sprache.
Ich habe noch nie bemerkt, dass sie damit meine Gedanken zu
lesen versuchten.
Außerdem: Wie sollen sie sich sonst während eines Fluges verständigen? Sich ständig gegenseitig etwas zuschreien?«
Victor lachte auf. »Ja, da hast du wohl Recht.« Sie näherten
sich dem Felspfeiler. Victor beobachtete, wie vor der gewaltigen
grauen Wand ein schlanker, weiblicher Drache seine mächtigen
Schwingenschläge verlangsamte, um auf einem Felssims zu landen. Auf dem Rücken des Tieres saßen Hochmeister Jockum und
Quendras. Roya hingegen war seit gestern Morgen nicht mehr bei
ihnen; sie war mit Leandras Drachenfreund Tirao im RamakorumGebirge zurückgeblieben, um einen jungen, verletzten Feuerdrachen zu pflegen.
Leandra umfasste den großen Hornzacken fester, der vor ihr
aus Nerolaans Rückenkamm aufragte, und Victor klammerte sich
ebenfalls fest. Eine Drachenlandung war gewöhnlich eine sehr
sanfte Angelegenheit, hier jedoch musste Nerolaan einen Felssims
in großer Höhe ansteuern. Der Drache stellte die Schwingen in
den Wind, wurde daraufhin ein Stück in die Höhe getragen und
landete geschickt und trotz der Schwierigkeit vergleichsweise ruhig auf dem Sims. Fünf Drachen waren bereits da, die anderen
näherten sich gerade. Victor und Leandra glitten von Nerolaans
Rücken herab.
So hoch droben an einem Felspfeiler waren sie bisher noch nie
gelandet. Der Sims war ein wenig abschüssig, er befand sich auf
gut zwei Dritteln Weg hinauf zum Felsenhimmel. Bis ganz hinunter in die Ebene mochten es fünf Meilen sein. Leandra hielt sich
weit hinten an der rückwärtigen Felswand und ließ furchtsame
zehn Schritt Abstand zur Felskante, unterhalb derer es in bodenlose Tiefen ging.
Quendras und Hochmeister Jockum traten zu ihnen.
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