Höllen-Mädchen
Hüter des Schloßgrabens. Am Anfang der Geschichte hatte er ihr beinahe den Zutritt zu Humfreys Schloß verweigert. Was er wohl hier wollte?
»Hat man dir deinen Wunsch erfüllt, Mami?« erkundigte er sich artig.
»Ich fürchte, es war…« Verdutzt hielt sie inne. »Wie hast du mich gerade genannt?«
»Was ist eigentlich los mit dir, Mami? Du siehst ja aus, als wäre dir ein Geist erschienen. Was ist dort drinnen passiert?«
Betroffen blickte sie das Kind an. Sie wußte ja, daß Ryvers größter Wunsch darin bestand, von richtigen Eltern adoptiert zu werden. Aber sie war doch nur eine ledige alte Jungfer, die ihre besten Jahre schon hinter sich hatte. »Ja, das mag schon sein.« Verunsichert gab sie ihm recht. »Ich habe etwas ganz Seltsames erlebt.« Mehr wollte sie ihm nicht erzählen, ehe sie nicht genau wußte, was eigentlich außerhalb des Parks geschehen war.
»Komm, laß uns nach Hause fliegen, sonst macht sich Papi noch Sorgen«, drängte Ryver. »Ich habe den Teppich schon ausgerollt. Nun komm schon!« Mit einer einladenden Geste wies er auf den ausgebreiteten Teppich.
Sie nahmen Platz. Ryver saß vorn und tat so, als ob er steuerte. Er hatte Lacuna den großen Wasserball übergeben, den sie mit einer Selbstverständlichkeit übernommen hatte, als hätte sie dies schon tausendmal gemacht. Zu ihrer Verwunderung blieb er heil und zerplatzte nicht in ihren Händen.
Sie saß gleich hinter dem Jungen. Im Nu waren sie in der Luft und segelten über eine berauschend schöne Landschaft.
»Ähm, dein Vater macht sich also Sorgen um dich«, forschte sie in der Hoffnung, ihm nähere Einzelheiten zu entlocken.
»Ach nein, um mich doch nicht«, widersprach er entschieden. »Es ist nur so, daß die Kinder ihm auf der Nase herumtanzen. Außerdem möchte er wissen, warum du eigentlich losgezogen bist, dir einen Wunsch zu erfüllen. Er meint, es hätte dir in deinem Leben doch an nichts gefehlt.«
Lacuna blickte in den Wasserball, als sei er eine magische Kristallkugel, und fragte sich, was ihr wohl die Zukunft brachte.
Sie hatten ihr Ziel fast erreicht. Der Teppich senkte sich direkt vor dem Schloßgraben des Guten Magiers herab. Zwei kleine Gestalten liefen über die Zugbrücke auf sie zu. Im nächsten Augenblick hingen beide in stürmischer Umarmung an ihrem Hals. Lacuna mußte den Wasserball loslassen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der Ball zerplatzte auf dem Boden. Die beiden zärtlichen Wilden waren Jot und Tittel, die sie in der Vorhölle schon einmal getroffen hatte.
»Ich bin ja so froh, daß du wieder da bist, Mami«, rief Jot atemlos. Er gab ihr einen dicken feuchten Kuß auf die Wange.
»Endlich, Mami«, freute sich Tittel und hauchte ihr einen eher zarten Kuß auf die andere Wange.
Waren das etwa ihre Kinder?
Inzwischen war ein Mann gemessenen Schrittes über die Brücke gekommen. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Er besaß eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Statue im Park, die einen in jeder Hinsicht vollkommenen Mann dargestellt hatte. Nein – als er näher kam, zeigte sich, daß er älter war. Sein Gang war allerdings immer noch jung und elastisch. Es war tatsächlich Vernon, der auf sie zutrat. Nach all den Jahren sah er sogar noch stattlicher aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Es schien ganz so, als wäre er all die Jahre von einer liebevollen Gattin umsorgt worden, die sich um seine Gesundheit und sein Glück gekümmert hatte. »Nun, meine Liebe, hattest du eine angenehme Reise?« erkundigte er sich.
Lacuna bemühte sich, ihn nicht anzustarren. Sollte das jetzt wirklich und wahrhaftig ihr Ehemann sein? »Ja, hatte ich«, gab sie schüchtern zur Antwort.
Er beugte sich hinab, um ihr vom Teppich zu helfen und sie aus der Umklammerung der Kinder zu befreien. Mit einem kräftigen Schwung zog er sie hoch und in seine Arme, um ihr einen langen, innigen Kuß zu geben. Allmählich begann sie es wirklich zu glauben. Sie fühlte sich nicht nur wie ausgewechselt, es hatte tatsächlich ein Wechsel stattgefunden. Der Wechselberg hatte ihr Leben verändert. Aber warum war sie die einzige, die davon wußte?
Vernon rollte den Zauberteppich zusammen und trug ihn auf der Schulter über die Brücke. Lacuna und die Kinder folgten ihm. Im Vorübergehen sah sie, daß wieder ein richtiges Grabenungeheuer im Wasser lebte, und sie – Gott sei Dank – ohne weiteres passieren ließ.
Lacuna blieb für einen Moment stehen, um sich die Schlange aus der Nähe anzuschauen. Irgend etwas an dem
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