Höllen-Mädchen
dichte Nebelschwaden verdeckten ihr die Sicht. Vermutlich verbarg sich darunter der Wechselberg. Was aber sollte sie hier? Es war alles so verwirrend. Hätte doch nur Grey Murphy ihre Antwort gesucht. Er war selbst noch jung und unerfahren, weswegen er sich bei seinen Erklärungen oft viel Zeit nahm. Humfrey dagegen erwartete meist ungeduldig, daß man bereits alles wußte. Doch bekanntlich war er schon sehr alt und entsprechend erfahren, was Lacuna schließlich am besten wissen mußte – immerhin hatte sie seine Biographie niedergeschrieben. Nach einem so langen Leben war es nicht verwunderlich, daß er Ratsuchenden gegenüber schnell ungeduldig wurde.
Nach der Landung stieg sie vom Teppich, der sich sogleich zusammenrollte, dann aber liegenblieb. Sie war ziemlich erleichtert, denn es schien ihr die Gewähr dafür zu sein, daß sie an diesem fremden Ort nicht strandete. Zwar würde Xanth den Verlust einer solch unbedeutenden langweiligen Trantüte, wie sie es war, leicht verschmerzen. Doch zog sie es vor, sich in ihren eigenen vier Wänden zu langweilen und nicht auch noch andere mit ihrer Anwesenheit zu belästigen.
Vorsichtig näherte sie sich dem großen Holztor, das in den Park führte, und steckte den hölzernen Schlüssel ins Schloß. Er paßte, ließ sich aber nicht herumdrehen. Sie rüttelte daran und versuchte es noch einmal, diesmal ein wenig heftiger. Ohne Erfolg. Der Schlüssel ließ sich einfach nicht drehen.
Lacuna trat ein paar Schritte zurück und versuchte, über die hohe Einfriedung zu blicken. Was sie sehen konnte, gefiel ihr nicht. Die verwitterte alte Mauer, die den Park umgab, war schon recht heruntergekommen, und die Bäume, deren Äste darüber hinaus ragten, rotteten vor sich hin. Ein Wort erschien auf der Mauer: Versagt! O nein! Dies war der falsche Ort!
Aber wie konnte sich der Zauberteppich nur so irren? Das mußte ihr Ziel sein – oder vielleicht erst werden?
Sie konzentrierte sich auf das Wort an der Wand und änderte es in: Erfolg!
Sofort glättete sich die brüchige Mauer und erstrahlte in neuem Glanz. Die Bäume trugen unvermittelt ein frisches grünes Kleid.
Mutig geworden, ging sie entschlossen auf das Tor zu, und diesmal ließ der Schlüssel sich im Schloß herumdrehen. Also hatte sich, dank ihres Talents, doch noch alles zum Guten gewandelt. Als sie das Tor hinter sich ins Schloß ziehen wollte, klemmte es und ließ sich nicht von der Stelle bewegen. Es blieb einfach sperrangelweit offen. Verwundert trat sie noch einmal vor die Mauer. Vielleicht hatte ja jemand die günstige Gelegenheit nutzen wollen, hinter ihr in den Park zu schleichen. Sie konnte jedoch niemanden entdecken.
Im gleichen Augenblick fiel das Tor krachend ins Schloß. Sie fuhr zusammen. War sie nun etwa wieder ausgeschlossen?
Nein, das Tor ließ sich ohne Umstände aufschließen. Auch dieses Mal ließ es sich anschließend nicht mehr bewegen, bis sie durch das Tor hinaustrat. Jetzt war ihr klar, daß es einfach so lange offen blieb, wie sich jener, der es mit dem Schlüssel geöffnet hatte, im Park befand. Eigentlich war es nur ein kleiner magischer Trick – doch zu welchem Zweck? Warum sollte es dem Tor etwas ausmachen, ob sie sich innerhalb oder außerhalb des Parks aufhielt? In Gedanken zuckte sie die Achseln. Ein unbedeutendes, harmloses kleines Geheimnis. Nun, falls das Tor sich dennoch eines anderen besinnen und sich unvorhergesehen schließen sollte, würde sie es halt wieder öffnen.
Sie sah sich im Park um. Nicht weit vom Eingang fand sie ein Standbild, das einen nackten Läufer darstellte. Er war in jeder Hinsicht ein prächtiges Mannsbild – muskulös, kräftig, gutaussehend und auch an der Stelle, die ein anständiges Mädchen eigentlich nicht betrachten durfte, gut ausgestattet. Natürlich war er nur das Machwerk eines Bildhauers, der ihn nach seinen Vorstellungen ein wenig idealisiert hatte. Sie selbst war an besagter Stelle keinesfalls besonders interessiert; sie sehnte sich eher nach einem Mann mit Herz und Verstand, der auch ein guter Familienvater wäre. Der größte Fehler der Männer bestand darin, daß sie sich gewöhnlich weit mehr um die Anatomie der Frauen kümmerten als um ihr Herz und ihren Verstand. Glücklicherweise bewiesen Frauen in dieser Hinsicht mehr Köpfchen und wählten eher einen der verständnisvollen Männer zum Partner. Aber ein gutaussehender Mann war eigentlich auch nicht zu verachten.
Doch plötzlich fiel ihr etwas auf. Hatte sich die Statue nicht bewegt?
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