Hoellenengel
Schuhwerk anzuziehen. Die
Stiefel hatten ihm die Haut an der Achillessehne wundgescheuert. Er
zog sich die Adidas-Schuhe an, die speziell für
Geländeläufe entworfen worden waren und eine ordentliche
Summe gekostet hatten.
Er steckte die Armeestiefel in seinen Rucksack und stand auf. Ging
ein paar Schritte, um herauszufinden, ob er die Wunde an der Ferse
spürte. Nein. Gut.
Nordpol grinste, als er daran dachte, was Karl wohl sagen
würde, wenn er ihn jetzt so sähe.
Er knallte die Fersen zusammen, richtete sich auf, streckte den Arm
aus und sprach: »Heil Karl!«
Dann lief er los.
*****
Auf einem alten Schild am Abzweig der Nationalstraße stand
»Karusnahakasvatus«, Pelztierzucht, und zur
näheren Erklärung stand darunter
»Rebasefarm«, Fuchsfarm. Die Buchstaben waren
abgeblättert, sodass die Wörter kaum lesbar waren. Das
war auch nicht weiter schlimm, denn die Informationen auf dem
Schild waren schon lange überholt.
Der Abzweig lag gute drei Kilometer im Wald, der zum Nationalpark
Lahemaa gehörte. An dessen Rand in der Nähe der
Ostseeküste stand ein Bauernhof, der zu Sowjet-Zeiten eine
staatliche Pelztierzucht beherbergt hatte.
Am Abend des 20. August 1991, als Estland seine Unabhängigkeit
und das Ende der sowjetischen Herrschaft erklärte, hatte Siim
Raudsepp, der letzte Leiter der Fuchsfarm, alle Käfige
geöffnet und die Füchse in den Nationalpark laufen
lassen. Er hatte vorgehabt, sich nach dieser Maßnahme zu
erhängen, das aber dann zu tun vergessen; er trank noch eine
Wodkaflasche leer und sah dabei zu, wie sein Lebenswerk, eine
strenge Zucht, in die Freiheit und in ein ungezügeltes
Sexualleben im dunklen Wald entschwand. Als er an einem
sonnenhellen Tag in einem freien Land erwachte, war er von dem
Gedanken abgekommen, sich das Leben zu nehmen. Also sammelte er die
Pelze, die noch da waren, ein, stapelte sie in den Transporter der
Farm und machte sich auf den Weg, auf dem freien Markt den
Höchstbietenden zu suchen.
Siim Raudsepp erhängte sich allerdings zwei Jahre später
an einem Ast in einem öffentlichen Park in Viljandi, sodass
keiner behaupten kann, er habe nicht zu seinen Vorsätzen
gestanden. Denn er erlebte schließlich, wie in den vormaligen
Ostblockländern schnell die westliche Vorstellung modern
wurde, dass es unmenschlich sei, Tiere zu einem anderen Zweck als
zur Nahrungserzeugung zu züchten. Siim Raudsepp war der
Auffassung, es sei aus der Sicht der Tiere einerlei, ob sie nach
ihrem Tod eine Pelzmütze oder ein Steak wurden. Diese
Anschauung traf auf wenig Verständnis und so kam eins zum
anderen.
Nachdem der Kommunismus zusammenbrach und die Füchse die
Freiheit erhielten, schwirrten Pläne zwischen den Behören
hin und her, das Grundstück dem Lahemaa-Nationalpark
anzugliedern, bis ein attraktives Angebot einer Firma aus Luxemburg
kam, die vorhatte, die Gebäude als Untersuchungsanstalt
für Bodenproben und zur Düngemittelentwicklung zu
verwenden. Nachdem geklärt worden war, dass diese Firma sich
nicht im Besitz von Russen befand, sondern eine Aktiengesellschaft
von estnischen und isländischen Beteiligten war, wurde die
Immobilie verkauft.
Zum Angebot gehörten ein einstöckiges Wohnhaus mit 14
Zimmern und Dachgeschoss, ein großer Fuchsstall und ein
ähnlich großes langes Gebäude, das unter anderem
die Pelzverarbeitung und den Maschinenraum beherbergt hatte. Die
Häuser bildeten drei Seiten eines Vierecks und die offene
Seite wies zum Meer. Die Küste war gut einen Kilometer
entfernt. Dort gab es eine kleine Anlegestelle.
Wie im Kaufvertrag festgehalten, war der Fuchsstall zu einem
Chemielabor umgestaltet worden. Allerdings nicht für Boden-
und Düngemitteluntersuchungen, sondern zur Herstellung von
Amphetamin. Drei Produktionszeilen wurden rund um die Uhr
betrieben, von denen jede im Durchschnitt um die vierhundert bis
vierhundertfünfzig Gramm reinen Amphetamins hervorbrachte. Ein
Produktionszyklus dauerte zwei Tage und Nächte abgesehen
vom Trocknen. Somit konnte der gesamte Ertrag der Anlage bis zu
vier Kilo in der Woche betragen.
Der Endverkaufspreis von Amphetamin ist je nach Land verschieden.
In Island kostete ein Gramm unterschiedlich stark gestreckten
Stoffs etwa viertausend Kronen, sodass eine Wochenproduktion, wenn
sie auf die Straße gelangte, mindestens sechzehn Millionen
wert war und eine Jahresproduktion etwa achthundert Millionen.
Daran verdienten auch viele Mittelsmänner hervorragend, und es
galt
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