Hoellenengel
nie
gesehen.«
»Wie konntest du das so genau erkennen?«, fragte
Ulrich.
»Indem ich das Haus betreten habe«, sagte
Nordpol.
»Und dabei hast du riskiert, die Männer zu
wecken?«, fragte Ulrich.
»Die wären nicht aufgewacht, selbst wenn ich mit einem
Panzer und einem Blasorchester davor angerückt wäre. De
facto erwachten die beiden nicht mehr, als ich ihre
Stimmbänder unwirksam gemacht hatte.«
»Wie das?«, fragte Ulrich.
»Indem ich ihnen die Kehlen durchgeschnitten habe,
natürlich«, sagte Nordpol.
»Wer hat dir die Erlaubnis dafür gegeben?«, fragte
Karl.
»Ich höre manchmal Stimmen«, sagte
Nordpol.
»Wo sind ihre Gewehre?«, fragte Ulrich. »Dann
müssen wir nicht diese verdammten Armbrüste
benutzen.« »Die Gewehre sind immer noch im Haus«,
sagte Nordpol. »Ich habe sie dagelassen. Wollte nicht
riskieren, dass der Hund hört, wie ich sie herumschleppe. Wir
müssen nichts anderes tun als uns in das Wohnhaus zu
schleichen, uns ans Fenster zu setzen und darauf zu warten, dass
die Leute kommen. Dann zünden wir alles an und machen, dass
wir fortkommen.«
»Wenn wir Gewehre haben, ändert das ziemlich
viel«, sagte Karl. »Bist du sicher, dass die
Männer tot sind?«
»Geh rein und schau nach.«
»Sollen wir nicht schnell die Gewehre holen und dann den
Wächter erledigen?«, fragte Ulrich.
»Machen wir das«, sagte Nordpol. »Dann
müssen wir uns um ihn keine Sorgen machen, wenn die anderen
Leute kommen.«
Karl stöhnte auf. »Wer gibt hier die Befehle? Was
fällt euch ein? Der Wächter sitzt in einem Labor, das
randvoll mit brennbaren Stoffen ist. Wenn irgendetwas schiefgeht
und das Feuer ausbricht, bevor die Leute da sind, dann erreichen
wir nicht das, was wir uns vorgenommen haben.«
»Und wenn der Wächter rauskommt?« Nordpol hatte
nicht vor, sich von Karl etwas vorschreiben zu lassen.
»Warum sollte er rauskommen?«
»Zum Beispiel, um zu pinkeln. Darf ich ihn dann erledigen?
Sein Urin wird ja wohl kaum brennbar sein.«
»Nun gut«, sagte Karl. »Gehen wir ins Haus. Wir
gehen mit fünf Minuten Abstand los. Ich gehe zuerst, dann du,
Ulrich, und Nordpol kommt zum Schluss.«
Nordpol konnte sich nicht verkneifen, wie eine Eule zu kreischen,
als Karl loslief.
*****
Frau Nuul wusste, dass sogar Andrus ihre Offensive gegen Professor
Kukk manchmal zu weit ging. Nicht zuletzt nach dessen Tod. Sie
spürte, dass Andrus die tägliche Morgenandacht auf dem
Friedhof, bevor sie zur Arbeit fuhren, nicht ganz ernst nahm.
Reelika Nuul war ein intelligenter Mensch, und aus vielen
Erfahrungen konnte sie darauf schließen, dass andere Menschen
sich anders als sie zu verhalten, zu reden und zu amüsieren
schienen. Sie hatte heimlich einen Termin bei einem bekannten
Neurologen gemacht, einem Immigranten, der ihr im Fernsehen
vernünftig erschienen war. Zia Ghoochannejhad hieß er.
In Estland lebten nur wenige Menschen mit so fremdartigem Namen,
und als sie den Doktor persönlich traf, wurde Frau Nuul nicht
enttäuscht. Er war dunkelhäutig, hatte dunkle Augen, und
sich an einen Mann zu wenden, der offensichtlich einer anderen
Rasse angehörte, empfand sie als weniger intim.
Der Arzt und sie saßen sich eine Weile stumm gegenüber.
Frau Nuul unterbrach die Stille: »Zia Ihr Name bedeutet
Licht auf Persisch, nicht wahr?«
»Sprechen Sie Persisch?«, fragte der Arzt und musterte
seine Patientin.
»Nein«, sagte die Frau. »Ich habe dieses Wort
nachgeschlagen und festgestellt, dass es Licht bedeutet. Das halte
ich für ein gutes Zeichen.«
Der Arzt lächelte. »Ja, Zia bedeutet Licht, aber
schlimmer ist es mit dem Nachnamen Ghoochannejhad, der bedeutet
nämlich Stromrechnung.«
Er sah, dass er die Patientin damit überraschte. Sie
bezweifelte seine Aussage nicht. Fand es einfach nur seltsam, dass
jemand Licht Stromrechnung hieß.
»Das war nur ein Scherz«, sagte er. »Verstehen
Sie? Erst Licht, dann kommt die Stromrechnung. Das eine führt
zum anderen.«
Die Frau schien den Witz zu verstehen und stieß ein kurzes,
bellendes Lachen aus, hahaha, das nicht schön
klang.
Das Gespräch dauerte fast zwei Stunden. Zia merkte bald, dass
die soziale Kompetenz dieser merkwürdigen Frau zu
wünschen übrig ließ. Die mangelnde Fähigkeit
zu zwischenmenschlichen Beziehungen ist das Hauptmerkmal des
Asperger-Syndroms.
Frau Nuul war sehr zufrieden mit der Diagnose des Arztes, sie war
sogar stolz. Für sie war es, als fielen ihr Fesseln ab, als
der Arzt ihr erklärte, dass sie einer Gruppe von
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